Oberst Reisner im Interview "Wagner wird eine globale Herausforderung für Europa"
22.05.2023, 20:14 Uhr
Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin verkündet die Einnahme Bachmuts - und verkündet kurz darauf, seine Truppen in der Stadt abziehen zu wollen.
(Foto: via REUTERS)
Nach Monaten blutiger Kämpfe gelingt den Russen in Bachmut ein Propagandaerfolg: Die Stadt ist laut Oberst Markus Reisner an die Russen gefallen. Ob Wagner-Chef Prigoschin seine Truppen aus der Stadt aber wirklich wie angekündigt abzieht, bezweifelt der Militärexperte. Wie es in Bachmut nun weitergeht und warum die Wagner-Miliz Europa künftig gefährlich werden könnte, erklärt er im Interview mit ntv.de.
ntv.de: Russland hat am Wochenende die Einnahme der Stadt Bachmut verkündet, die Ukraine dementiert das aber. Lässt sich sicher sagen, wer hier recht hat?

Oberst Markus Reisner ist Militärhistoriker, Leiter der Forschungs- und Entwicklungsabteilung an der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt sowie Kommandant des österreichischen Gardebataillons.
(Foto: Screenshot)
Markus Reisner: Durch die Analyse von Bildern und Videos in den sozialen Netzwerken kann man feststellen, dass die Russen es tatsächlich geschafft haben, bis an den westlichen Rand der Stadt vorzurücken. Dort wurde die letzten Tage ganz massiv um die letzten Häuserblocks gekämpft. Man kann also davon ausgehen, dass die Stadt an die Russen gefallen ist.
Wie sieht es an den Flanken von Bachmut aus? Machen die Ukrainer im Süden und Norden der Stadt Fortschritte?
Die Ukrainer haben in jeden Fall versucht, nördlich und südlich von Bachmut vorzumarschieren. Sie sind mit einer Kompaniestärke von 100 bis 150 Mann, unterstützt durch schweres Gerät wie Kampfpanzer, gegen die ersten Gefechtsvorposten der Russen teilweise mit Erfolg vorgestoßen. Danach sind die Angriffe aber wieder zum Erliegen gekommen, auch in den vergangenen Tagen konnten die Ukrainer keine Geländegewinne machen. Das heißt, dass sie es nicht geschafft haben, in die Tiefe vorzustoßen.
Sollte es die Ukraine schaffen, im Süden und Norden Bachmuts weiter vorzudringen, droht den russischen Kräften in der Stadt dann die Einkesselung?
Ja, das kann dann passieren, wenn die Ukrainer es schaffen, dort weiter vorzudringen. Die Russen stehen dann vor demselben Dilemma wie die Ukrainer vorher. Sie müssten sich dann aus der Stadt zurückziehen, um das zu vermeiden. Anzeichen für eine Einkesselung gibt es momentan aber nicht.
Die Ukrainer haben offenbar eine Reihe sehr erfolgreicher HIMARS-Angriffe auf russische Streitkräfte durchgeführt, die in Richtung Bachmut verlegt wurden. Nutzt die Ukraine die Bewegung von Truppen hier für gezielte Angriffe?
Das sehen wir an der gesamten Frontlinie. Dort, wo die Russen Truppen verschieben, versucht die Ukraine als Teil der Vorbereitung der Gegenoffensive entsprechend hemmend zu wirken und die Russen zu verzögern. Das sieht man auch an gezielten Angriffen auf Eisenbahnknotenpunkte, Logistikstützpunkte oder Treibstofflager. Die Verlagerung von russischen Truppen nach Bachmut ist deshalb interessant, weil es bedeuten kann, dass sehr wohl ein Bedarf an Verstärkungskräften vorhanden ist. Ob es tatsächlich einen nachhaltigen Einfluss hat, muss man aber erst sehen.
Der Chef der Wagner-Miliz, Jewgeni Prigoschin, hat angekündigt, seine Truppen am 25. Mai aus Bachmut abzuziehen und die Stadt regulären russischen Streitkräften zu übergeben. Wie geht es dann weiter?
Dafür muss man zunächst abwarten, ob er die Ankündigung auch wirklich umsetzt. Wir haben in den vergangenen Tagen und Wochen immer wieder gesehen, dass Prigoschin Dinge ankündigt, die er dann nicht wahrmacht. Zum Beispiel hat er schon mal gesagt, dass er seine Truppen aus Bachmut abziehen wolle - es dann aber nicht getan. Sicher ist hingegen, dass die Russen zusätzliche Kräfte in den Norden und Süden der Stadt verlegen. Zum einen, um die ukrainischen Angriffe auf die Flanken dort zu stoppen, zum anderen, um in der Stadt selbst die Kräfte zu stärken. Prigoschin selbst sagt, dass er den Auftrag habe, Bachmut so vorzubereiten, dass das russische Militär die Stadt verteidigen kann.
Ist das denn zu schaffen? Dem russischen Militär werden immer wieder eine schwache Moral und schlechte Absprachen vorgeworfen, und dass es die Stadt ohne die Wagner-Gruppe gar nicht halten könnte.
Ehrlicherweise hört man nicht besonders viel von der russischen Armee. Man weiß zwar, dass sie entlang der 1200 Kilometer langen Frontlinie eingesetzt werden, aber der Fokus findet in Bachmut oder Awdijiwka statt. Interessant ist, dass jetzt offenbar 120.000 neue Vertragssoldaten an die Front geschickt werden. Man wird sehen, ob die russische Armee einen Wagner-Abzug aus Bachmut kompensieren kann - wenn er denn passiert.
Was könnte Prigoschins Motivation sein, seine Ankündigung nicht wahrzumachen?
Es gibt im Russischen einen Begriff, der heißt "Maskirovka“ (маскировка), das bedeutet die Täuschung des anderen. Es drängt sich der Verdacht auf, dass Prigoschin versucht, durch Falschinformationen die Ukraine zu beeinflussen. Der Informationsraum ist eine eigene Domäne der Kriegsführung. Man versucht, beim Gegner den Eindruck zu erwecken, dass man selbst geschwächt sei, um so das Momentum zu nutzen. Diese Taktik konnte man in den vergangenen Wochen öfter beobachten.
Experten sehen die Wagner-Gruppe durch die Kämpfe in Bachmut tatsächlich so geschwächt, dass sie kaum in der Lage zu neuen Angriffen außerhalb der Stadt seien. Wie geht es mit den Wagner-Kämpfern jetzt weiter?
Die Wagner-Gruppe hat durch die Kämpfe in Bachmut eine Aufmerksamkeit bekommen, die sie vorher nicht hatte. Man darf aber nicht vergessen, dass sie global im Einsatz ist. Wir sind sehr auf die Ukraine fokussiert, aber Wagner ist auch in anderen Orten aktiv, vor allem in Afrika. Prigoschin hat angedeutet, dass er sich wieder verstärkt auf diese internationale Rolle fokussieren will. Das heißt, dass Wagner künftig eine globale Herausforderung für Europa darstellen wird. Wenn die Gruppe es schafft, gewisse Länder auf ihre Seite zu ziehen, dann hat das möglicherweise Folgen für Europa.
Wie könnten diese Folgen für Europa aussehen?
Wenn Wagner - offensichtlich im Auftrag Russlands - versucht, in der Sahelzone massiv Fuß zu fassen, dann hat das möglicherweise einen Einfluss auf Migrationsentwicklungen, die in Europa von großem Interesse sein müssten.
Abgesehen von Wagner: Wie sieht es an anderen Stellen der Front aus? Gibt es Fortschritte seitens der Ukraine oder Russlands?
Die Russen sind in den letzten Monaten ganz klar dazu übergegangen, das gewonnene Gelände zu halten. Sie versuchen massiv, ihre Truppen zu verstärken, haben Verteidigungsanlagen wie Panzergräben ausgebaut und legen Minenfelder an, starten aber keine signifikanten Vorstöße. Abgesehen von Bachmut gibt es nur im Raum von Awdijiwka nennenswerte Vorstöße. Aber es gibt keinen nachhaltigen Durchbruch, der die Ukraine gefährden kann. Auf der anderen Seite versucht die Ukraine, sich bereitzustellen, darauf deuten verschiedene Indikatoren hin. Die große Frage ist natürlich: Kommt die Offensive und wo wird sie stattfinden?
Noch lässt sich also nichts Konkretes über die Gegenoffensive sagen?
Man kann verschiedene Elemente der Vorbereitungsphase erkennen. Das ist zum Beispiel einerseits der Versuch, Treibstoffdepots oder Logistikpunkte der Russen zu treffen, unter anderem mit den aus Großbritannien gelieferten "Storm Shadow"-Raketen. Dazu versucht die Ukraine entlang der gesamten Frontlinie durch Sondierungsangriffe zu erkunden, wo möglicherweise Lücken in der russischen Verteidigung sind. Diese Lücken könnten dann mögliche Ansatzpunkte für eine Offensive darstellen.
Mit Markus Reisner sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de