Experte Mangott im Interview "Wagner wurde enthauptet"
24.08.2023, 13:58 Uhr Artikel anhören
Vor dem Büro der Wagner-Gruppe in Nowosibirsk wurde ein Mahnmal für deren Führungsköpfe Jewgeni Prigoschin und Dimitri Utkin errichtet.
(Foto: REUTERS)
Sicher bestätigen lässt sich der Tod von Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin nicht. Vieles spreche aber dafür, sagt Russlandexperte Gerhard Mangott im Interview mit ntv.de. Am wahrscheinlichsten hält er einen Auftragsmord durch Wladimir Putin, die Gründe dafür liegen auf der Hand: Stärke demonstrieren. Für Russland aber könnte der Zerfall der Wagner-Gruppe negative Folgen haben: "Wenn es nicht gelingt, eine paramilitärische Präsenz in Afrika fortzusetzen, dann ist das zum Schaden Russlands", so der Experte.
ntv.de: Wie sicher können wir sein, dass Wagner-Chef Jewgeni Prigoschin wirklich tot ist?

Gerhard Mangott ist Politikwissenschaftler mit Spezialisierung auf Internationale Beziehungen und Sicherheitsforschung im postsowjetischen Raum.
Gerhard Mangott: Gar nicht, wenn man strenge Maßstäbe anlegt. Trotzdem haben Wagner nahestehende Telegram-Kanäle gestern seinen Tod gemeldet, genauso wie den Tod des eigentlichen Gründers der Wagner-Gruppe, Dmitri Utkin. Es ist unwahrscheinlich, dass sie diese Meldung leichtfertig verbreitet haben. Sie dürften demnach Informationen haben, die bestätigen, dass diese beiden Männer sowie ein weiterer Wagner-Sicherheitsmann unter den Opfern waren. Eine Bestätigung gibt es auch von der russischen Luftfahrtbehörde, was aber natürlich keine glaubwürdige Quelle ist. Gewissheit gibt es keine, aber vieles spricht doch dafür.
Man sagt über Putin, er glaube, "Rache wird am besten eiskalt serviert". Gibt es ein realistisches Szenario, in dem Putin nicht hinter dem Tod der Wagner-Führungsebene steckt?
Die Meuterei von Prigoschin am 23. Juni war ein Zeichen von Schwäche und Kontrollverlust aufseiten Putins. Ihm wurde von gewissen Kreisen in der Führungsriege vorgeworfen, dass er bei dem Aufstand zu weich reagiert habe. Es ist deshalb nicht auszuschließen, dass Mitglieder der Führungsriege ohne Putins Wissen Prigoschin ausgeschaltet haben. Es gibt auch Spekulationen, dass das alles nur inszeniert wurde, um Prigoschin ein Abtauchen zu ermöglichen. Daran glaube ich aber nicht. Die wahrscheinlichste Erklärung ist ein Auftragsmord durch Putin, der Verrätern nicht verzeihen kann, wie er 2018 in einem Interview gesagt hat. Am Tag der Meuterei hat Putin Prigoschin als Hochverräter bezeichnet. Damals war klar, wenn Putin nicht schwach dastehen will, dann muss er ihn liquidieren. Das wurde jetzt offensichtlich getan.
Kann es überhaupt jemals Gewissheit über Prigoschins Tod geben? Gibt es eine glaubwürdige Quelle, die das bestätigen könnte?
Die Telegram-Kanäle von Wagner zitieren auch Mitarbeiter und Freunde von Prigoschin, die versucht hätten, ihn zu erreichen, und von seinem Tod ausgehen. Es könnte natürlich sein, dass er nicht erreichbar war, weil die Verschwörungstheorie des Untertauchens stimmt. Äußerungen aus seinem Umfeld sind daher auch kein fester Beweis. Es wird vielleicht nie einen hundertprozentigen Beweis geben, dass Prigoschin unter den Opfern war, aber die Wahrscheinlichkeit ist groß.
Es gibt Gerüchte, dass das Flugzeug abgeschossen worden ist. Lassen sich dafür bereits erste Anzeichen finden?
Es gibt die Version, dass Flugabwehrraketen im Gebiet die Maschine abgeschossen hätten. Das lässt sich derzeit nicht belegen. Wenn, dann wäre ein Abschuss durch Luftabwehrraketen eine gute technische Möglichkeit, um das Flugzeug zum Absturz zu bringen. Möglich ist auch, dass es eine Bombe an Bord gab. Manche behaupten auch, dass es nur ein technischer Defekt im Jet war, also ein Unfall.
Wie wird in den russischen Medien über den Vorfall berichtet?
Lange wurde sehr zurückhaltend berichtet, Prigoschin sei auf der Passagierliste gewesen, aber niemand wisse, ob er tatsächlich an Bord war. Eine offizielle Bestätigung seines Todes gibt es von den Staatsmedien nicht. Einzelne Stimmen geben dem Westen und der Ukraine die Schuld. Aber natürlich äußert in den Medien niemand den Verdacht, dass die politische Führung selbst dahinterstecken könnte.
Wem nutzt denn der Tod von Prigoschin und wem schadet er?
In erster Linie nutzt es Putin. Er kann damit Stärke demonstrieren und Zweifler oder Gegner in der Führungsriege einschüchtern, indem er zeigt: "Stellt euch gegen mich und das ist das Ende eures Daseins". Gleichzeitig schwächt er Russland auch, denn in Afrika und im Nahen Osten haben die Wagner-Kämpfer die Schmutzarbeit für die russische Führung erledigt. Sie setzen sich von der Zentralafrikanischen Republik über Mali, den Tschad bis nach Syrien für die russischen Interessen ein. Russland konnte dadurch die Beziehungen zu einigen afrikanischen Staaten deutlich vertiefen. Die Frage ist nun: Was passiert mit diesen Soldaten in Afrika? Werden sie weiterkämpfen oder sich aus Loyalität zu Prigoschin und Utkin zurückziehen?
Was glauben Sie?
Wenn es nicht gelingt, eine paramilitärische Präsenz in Afrika fortzusetzen, dann ist das sicher zum Schaden Russlands. Die Präsenz ohne Prigoschin fortzusetzen, wird nicht einfach.
Wer könnte Wagner künftig führen? Gibt es einen "Thronfolger", der die Geschäfte übernehmen könnte?
Wenn die Berichte über den Tod der Führungsebene stimmen, dann wurde Wagner enthauptet. Es gibt im Augenblick niemanden, der Prigoschins Nachfolge antreten könnte. In Telegram-Kanälen wird zwar mit Rache gedroht und gesagt, dass der Kreml erobert oder dass es einen zweiten "Marsch der Gerechtigkeit nach Moskau" geben werde. Aber es wurde ja nicht nur die Führungsriege entfernt, sondern die Wagner-Kämpfer mussten auch in den letzten zwei Monaten ihre schweren Waffen alle abgeben, sodass sie militärisch jetzt wesentlich schwächer dastehen, als es noch am 23. Juni der Fall war. Einzelaktionen kann es geben, aber für eine massive Racheaktion fehlt Wagner die Stärke.
Warum saßen überhaupt die zwei bedeutsamsten Führungsköpfe, Prigoschin und Utkin, gemeinsam im Flugzeug? Haben sie sich zu sicher gefühlt?
Ganz offenbar. Natürlich war allen klar, dass Prigoschin nicht über den Berg ist und weiterhin gefährdet. Dass aber sowohl Waleri Tschekalow, der Sicherheitschef von Prigoschin, als auch Kommandeur Dmitri Utkin an Bord waren, ist etwas eigenartig und zeugt von Leichtfertigkeit. Dass Tschekalow als Sicherheitschef an Bord war, ist noch nachvollziehbar. Aber dass Utkin zugleich in diesem Flugzeug war, zeugt von Unachtsamkeit und Fahrlässigkeit - und die hat sich gerächt.
Wagner kämpft zwar nicht mehr in der Ukraine an der Front. Hat der wahrscheinliche Tod von Prigoschin trotzdem Auswirkung für die Kämpfe dort?
Die russische Armee muss seit gut zwei Monaten ohne die gut ausgerüsteten Kämpfer auskommen und scheint das kompensieren zu können. Es gibt auch noch andere private Militärfirmen, die in der Ukraine tätig sind und mit dem Verteidigungsministerium zusammenarbeiten. Aber ohne Wagner fällt Kampfkraft weg, das spürt man. Das lässt sich auch nicht durch andere private Militärfirmen ersetzen. Aber nicht so, dass die russische Seite in die Defensive geraten würde. So überschätzen darf man die Gruppe Wagner auch nicht.
Mit Gerhard Mangott sprach Vivian Micks
Quelle: ntv.de