Neue Ära in Südafrika Wahlen beenden Alleinherrschaft des ANC
01.06.2024, 14:43 Uhr Artikel anhören
In Südafrika steht eine politische Zeitenwende bevor. Genau drei Jahrzehnte regierte die einstige Partei der Anti-Apartheid-Ikone Nelson Mandela allein. Jetzt verliert sie haushoch die absolute Mehrheit. Vor allem zwei Parteien kommen nun als Koalitionspartner infrage.
Es steht so gut wie fest: Südafrikas Regierungspartei Afrikanischer Nationalkongress (ANC) hat bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit verloren. Nach Auszählung von 97,51 Prozent Stimmen lag der ANC am Morgen bei 40,11 Prozent, wie die Nationale Wahlbehörde (IEC) mitteilte. Das vorläufige Teilergebnis zeigt einen massiven Machtverlust. Bei den Parlamentswahlen 2019 war die Regierungspartei noch auf 57,5 Prozent der Stimmen gekommen.
Für die Partei des einstigen Anti-Apartheid-Kämpfers Nelson Mandela bedeutet das mehr als ein massives Wahldebakel. Zum ersten Mal in der 30-jährigen demokratischen Geschichte des Landes wird der ANC nicht mehr allein regieren. Erstmals muss er eine Koalition bilden und politische Kompromisse eingehen. In den vergangenen 30 Jahren, seit Beginn der Demokratie 1994, hatte der ANC immer die absolute Mehrheit errungen und die stärkste Volkswirtschaft des Kontinents allein regiert.
Die Frage ist nun: mit wem?
Die Zeit für die jetzt nötige Koalitionsbildung ist knapp berechnet: Innerhalb von 14 Tagen nach der offiziellen Verkündung des Wahlergebnisses durch die IEC müssen die 400 neugewählten Parlamentarier eine Regierung bilden und einen Präsidenten wählen. Als Koalitionspartner kommen politischen Kommentatoren zufolge hauptsächlich zwei Parteien infrage: Zum einen die wirtschaftsliberale Demokratische Allianz (DA), zum anderen die marxistisch geprägte Partei Economic Freedom Fighters (EFF).
Die DA steht den vorläufigen Teilergebnissen zufolge bei 21,71 Prozent. Die Partei ist ideologisch zwar weit vom ANC entfernt, hat sich jedoch bereits auf Provinzebene bewiesen: Sie regiert seit 2009 die Westkap Provinz, in der sich die Touristenmetropole Kapstadt befindet.
Die andere wahrscheinliche Option für eine Koalition ist Analysten zufolge ein Zusammenschluss des ANC mit der marxistisch geprägten Partei Economic Freedom Fighters (EFF). Sie tritt für entschädigungslose Enteignungen im großen Stil und für Verstaatlichungen ein und liegt laut der vorläufigen Teilergebnisse bei 9,37 Prozent. Da die EFF vom ehemaligen Vorsitzenden des ANC Jugendverbands, Julius Malema, geführt wird, stehen sich ANC und EFF politisch relativ nahe.
Erst vor sechs Monaten gründete Ex-Präsident Jacob Zuma eine Partei. Die uMkhonto we Sizwe (MK), liegt bei 14,84 Prozent. Zuma selbst wurde jedoch vergangene Woche vom Verfassungsgericht in Johannesburg von der Wahl ausgeschlossen.
Großes Interesse von deutschen Unternehmen
Aleix Montana, politischer Analyst der Risikoberatungsfirma Verisk Maplecroft, glaubt, eine Koalition zwischen ANC und DA sei trotz unterschiedlicher Ideologien wahrscheinlich. Ein solches Bündnis würde von westlichen Partnern und ausländischen Investoren begrüßt werden, meinte Montana.
Deutsche Unternehmen mit Interesse am südafrikanischen Markt schwankten zwischen Hoffnung und Sorge, sagte Christoph Kannengießer, Hauptgeschäftsführer des Afrika-Vereins. "Ein Verlust der ANC-Mehrheit kann Chancen, aber auch Risiken für deutsche Unternehmen bedeuten", so Kannengießer, je nachdem für welchen Koalitionspartner sich der ANC entscheide.
Eine Koalition mit EFF werde Investoren verschrecken - kein gutes Zeichen für Südafrikas stagnierende Wirtschaft und Massenarbeitslosigkeit, warnte Analyst Montana. Außerdem hätten sich vorherige Koalitionen zwischen dem ANC und der EFF auf Kommunalebene als instabil erwiesen.
Auch Andreas Freytag, Professor für Wirtschaftspolitik an der Universität Jena und Honorarprofessor an der südafrikanischen Universität Stellenbosch, bezeichnet eine mögliche ANC-EFF-Koalition als "Gift für die dringend notwendige wirtschaftliche Entwicklung des Landes".
Mögliche Gründe für den Wandel
Politische Kommentatoren führen den historischen Machtverlust des ANC aber auch auf die Neugründung der erst vor sechs Monaten von Zuma gegründeten Partei uMkhonto we Sizwe (MK) zurück, die 14,8 Prozent der Stimmen erhielt. Aufgrund interner Streitigkeiten gilt eine Koalition mit der MK aber als kaum denkbar.
Der ANC hat die Verluste demnach aber auch seiner schwachen Regierungsbilanz zuzuschreiben. Die 61 Millionen Einwohner des Landes am Südzipfel Afrikas haben viel zu beklagen: eine kränkelnde Wirtschaft, Massenarbeitslosigkeit, marode Staatsunternehmen, regelmäßige Stromabschaltungen sowie hohe Kriminalität und tiefgreifende Korruption.
Cyril Ramaphosa wolle nicht zurücktreten
Der ANC schwieg am Samstagmorgen. Die stellvertretende ANC-Generalsekretärin, Momvula Mikonyane, hatte am Vortag lediglich in einer kurzen Presseunterrichtung versichert, Präsident Cyril Ramaphosa werde nicht zurücktreten. Ob Ramaphosa jedoch vom Parlament für eine fünfte Amtszeit als Staatsoberhaupt wiedergewählt wird, ist jetzt unklar. Der 71-Jährige galt einst als Hoffnungsträger für die Regenbogennation. Er hatte 2018 Zuma entmachtet, der den Staat über viele Jahre systematisch ausgebeutet hatte. Heute wird Ramaphosa aber vorgehalten, er sei während seiner sechsjährigen Amtszeit aufgrund innerparteilicher Machtspiele weitgehend handlungsunfähig gewesen.
Der Vorsitzende der DA, John Steenhuisen, bezeichnete das Ergebnis der Parlamentswahl als "Gewinn für Südafrikas Demokratie", auch wenn die Regierungsbildung noch offen ist. "Um Südafrika zu retten, musste die absolute Mehrheit des ANC gebrochen werden, und das haben wir erreicht", sagte Steenhuisen.
Südafrika gilt als "Tor zu Afrika"
Mitglieder von 52 Parteien konkurrierten bei der Wahl am 29. Mai um die 400 Sitze des Nationalparlaments. Nach Verkündung der Ergebnisse muss das neugewählte Parlament innerhalb von 14 Tagen eine Regierung bilden und einen Präsidenten wählen. Auch Provinzregierungen wurden neu gewählt.
Die Wahlen sind auch für Deutschland und Europa relevant. Südafrika ist die stärkste Volkswirtschaft des Kontinents. Es gilt politisch sowie wirtschaftlich als "Tor zu Afrika", als Zugangsland zu einem Kontinent, der aufgrund seiner für die Energiewende benötigten Rohstoffvorkommen international immer wichtiger wird. Südafrika ist zudem das einzige afrikanische Mitglied der Gruppe der großen Wirtschaftsnationen (G20).
Obwohl Südafrika gute Beziehungen zu westlichen Ländern unterhält, ist die Regierung eng mit Russland und China verbunden. Im Gaza-Krieg vertritt Südafrika eine starke propalästinensische Position. Es hat vor dem Internationalen Gerichtshof Klage gegen Israel wegen Völkermords im Gazastreifen erhoben.
Quelle: ntv.de, mes/dpa