Russen sammeln ihre Truppen Wann erfolgt der Großangriff auf Kiew?
11.03.2022, 01:36 Uhr
Die Verteidiger Kiews bereiten sich auf eine Großoffensive der russischen Armee in den kommenden Tagen vor.
(Foto: picture alliance/dpa/AP)
Kiew ist seit Beginn der Invasion Ziel Nummer eins der russischen Armee. Nach schnellem Vorstoß tut sich lange nichts, es gibt lediglich kleinere Gefechte in Vororten. Nun ziehen die Russen aber immer mehr Truppen im Norden und Osten zusammen. Die erwartete Großoffensive könnte bald beginnen.
Die ukrainische Hauptstadt Kiew wappnet sich für eine russische Großoffensive. Die Stadt sei "in eine Festung verwandelt worden", sagt Bürgermeister Vitali Klitschko im ukrainischen Fernsehen. "Jede Straße, jedes Gebäude, jeder Kontrollpunkt sind verstärkt worden." Nach Angaben des ukrainischen Generalstabs setzen die russischen Streitkräfte in der Nacht zum Donnerstag ihre "offensive Operation" zur Einkesselung der Hauptstadt fort. Am Nordostrand der Stadt sollen gepanzerte russische Fahrzeuge aufgefahren sein. In der Nacht wird die Ortschaft Welyka Dymerka vor den Toren Kiews massiv unter Beschuss genommen.
Der eisige Wind treibt Wasyl Popow die Tränen in die müden Augen. Der 38-Jährige steht an der Tür des Lebensmittelladens von Welyka Dymerka und hält Ausschau nach den russischen Truppen. Nur wenige hundert Meter von dem Laden entfernt haben gerade russische Grad-Raketen eine Explosion ausgelöst. "Ich schlafe kaum noch", erzählt Popow. "Beim geringsten Geräusch läuft man sofort zum Fenster, um zu schauen, was los ist, während man sich fragt, ob gleich jemand reinkommt", sagt der Anzeigenverkäufer.
Welyka Dymerka liegt rund fünf Kilometer von der Kiewer Stadtgrenze entfernt. Hier befindet sich der letzte Checkpoint der ukrainischen Armee am nordöstlichen Rand der Hauptstadt. Fünf Soldaten sind an dem Kontrollpunkt stationiert, zur Verfügung steht ihnen eine Javelin-Panzerabwehrrakete. "Letzte Nacht hat es hier Angriffe mit Grad-Raketen und Bombardierungen gegeben", erzählt der Soldat Serhij. Derzeit laufe eine Evakuierungsaktion, um die älteren Frauen im Dorf in Sicherheit zu bringen. "Aber sie wollen nicht herauskommen."
Im Nordosten Kiews ist es lange ruhig
Anders als die Vorstädte im Nordwesten Kiews, die mehr als eine Woche lang unter russischem Dauerbeschuss standen, war die Lage im Nordosten der Hauptstadt bis vor Kurzem noch vergleichsweise ruhig. Doch die russischen Panzer rücken inzwischen auch in dieser Zone immer weiter vor. Zwar konnten ukrainische Soldaten in den vergangenen Tagen eine russische Panzerkolonne zurückdrängen. Die am nordwestlichen Ortsausgang von Welyka Dymerka beginnende Autobahn ist mit den Trümmern der teilweise zerstörten Kolonne übersät. Weit zurück zogen sich die russischen Streitkräfte aber nicht.
Die USA und mehrere NATO-Verbündete haben der Ukraine in den vergangenen Tagen weitere Waffenlieferungen zugesagt. In Welyka Dymerka fühlen sich dennoch viele Menschen vom Westen im Stich gelassen. "Wenn die NATO so eine mächtige Organisation ist, warum schließt sie dann nicht den Himmel über der Ukraine?", fragt mit verzweifelter Stimme der Rentner Grigorij Kuschka. "Warum können wir nachts nicht schlafen? Meine Familie, mein kleines Mädchen, die Kinder: Warum müssen wir von Keller zu Keller rennen?"
Den Himmel über der Ukraine schließen: Darum bittet auch die Regierung in Kiew die NATO seit Tagen eindringlich. Doch das westliche Militärbündnis lehnt die Schaffung einer Flugverbotszone über dem Land ab - zu groß ist die Angst vor einer militärischen Konfrontation der NATO mit Russland.
"Weglaufen? Wo würde ich hingehen?"
In Welyka Dymerka bedeutet der offene Himmel, dass sich die Menschen vor russischen Luftangriffen kaum schützen können. Die Umgebung des Dorfes ist von Feldern und offenen Straßen geprägt. Wer noch nicht geflohen ist, hat oft keine andere Möglichkeit, als hinter den einfachen Toren Schutz zu suchen, die hier viele der aus Holz gebauten Wohnhäuser umgeben.
Den Tod fürchte sie nicht, sagt die 75-jährige Walentyna Rut. "Ich habe Angst um meine Kinder und Enkel - mehr nicht", fügt sie hinzu, während sie ihre Hühner füttert. Gehen wolle sie nicht. "Warum sollte ich von meinem Zuhause weglaufen? Wo würde ich hingehen?"
Er lebe nun in einem gefährlichen Niemandsland zwischen den vorrückenden russischen Truppen und dem von der ukrainischen Armee kontrollierten Gebiet, sagt der Computer-Reparateur Roman Taranenko. Eine langfristige Einnahme Kiews durch Russland Truppen hält der 47-Jährige indes für ausgeschlossen. "Selbst wenn sie in Kiew einmarschieren, was wollen sie tun? Wie wollen sie die Macht behalten?", fragt Taranenko. Der ukrainische Widerstand bliebe immens, ist er sich sicher. "Die Menschen würden aus jedem Haus heraus auf sie schießen, sie würden ihre Fahrzeuge verbrennen." Die Russen würden nach seinen Worten "niemals die Macht halten können - nicht einmal mit Sturmgewehren".
Quelle: ntv.de, Von Dmitry Zaks, AFP