Politik

Notbremse nur noch bis 30. Juni Warum Merkel den Hammer in der Schublade lässt

Mehr und mehr genießen Deutsche nun wieder die Sonne auch an der Küste - wie hier Pfingsten in der Lübecker Bucht.

Mehr und mehr genießen Deutsche nun wieder die Sonne auch an der Küste - wie hier Pfingsten in der Lübecker Bucht.

(Foto: imago images/Chris Emil Janßen)

Die Notbremse soll verlängert werden? Der Widerspruch auf diese Meldung kam schneller, als man bis drei zählen konnte. Und das aus gutem Grund: Das Gesetz ist riskant, vor allem für die, die es schufen.

Die Inzidenzen fallen, Kinder kehren in den regulären Schulunterricht zurück, Passanten genießen den Kaffee in der Außengastronomie - da schlägt die "Bild"-Zeitung vor Kurzem Alarm mit der Ankündigung, die Bundesnotbremse solle bis September verlängert werden. Die Meldung erntete sofort Widerspruch. Das Gesetz, auf dessen Grundlage strenge Schutzmaßnahmen wie die nächtliche Ausgangssperre verhängt wurden, soll am 30. Juni planmäßig auslaufen. Auch Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das am Montag bestätigt.

Aktuell liegen noch zehn Landkreise in Deutschland bei einem Inzidenzwert, der die Notbremse weiterhin in Kraft hält. Im niedersächsischen Emden, im Landkreis Gotha oder auch im bayerischen Günzburg heißt es weiterhin: Ab 22 Uhr nur noch in Ausnahmefällen auf der Straße sein, Besuch zu Hause nur von einer Person, Einkaufen in den meisten Läden nur mit Termin und Testnachweis. Doch bei bundesweit fallender Inzidenz können sich die Bürgerinnen und Bürger auch in diesen Regionen Hoffnung machen, dass die harten Maßnahmen bald Vergangenheit sind.

Für eine Verlängerung des Bundesgesetzes hatte sich der CDU-Bundestagsabgeordnete Erwin Rüddel ausgesprochen. Rüddel ist Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Bundestag und argumentierte in der "Neuen Osnabrücker Zeitung", wenn die Inzidenzen wieder ansteigen sollten, sei es "wichtig, dass schnell reagiert werden kann, um die Zahlen im Griff zu behalten". Vor allem mit Blick auf die Virusvarianten sei es sinnvoll, die Notbremse noch einmal zu verlängern.

Für Rüddels Sichtweise spricht, dass es bei anhaltend niedrigen Inzidenzen für die Bürgerinnen und Bürger gar nicht spürbar wäre, ob das Bundesgesetz weiterhin gilt oder nicht. Denn es regelt zwar die strengen Maßnahmen, darunter nächtliche Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen, es besagt aber auch, dass diese erst ab einer Sieben-Tage-Inzidenz von 100 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohnern in Kraft treten. Der Einzelhandel wird erst ab Inzidenz 150 geschlossen, die Schulen ab einem Wert von 165.

Bis sich die Regierungskoalition im April jedoch zu dem Schritt durchringen konnte und das Maßnahmenpaket dann auch den Bundestag passiert hatte, vergingen viele Tage, in denen die Corona-Inzidenz bundesweit gefährlich anstieg. Man quälte sich durch zähe Bund-Länder-Runden, ersann und beerdigte absurde Maßnahmen wie die "Osterruhe", appellierte an die Ministerpräsidentinnen und -präsidenten, strengere Regeln einzuführen und sorgte auch in der Bevölkerung für reichlich Unmut. Noch einmal so viel Zeit zu verlieren, ist aus Sicht von Gesundheitspolitiker Rüddel gefährlich. Darum könnte das Notbremsengesetz verlängert werden, damit es bei Bedarf durch steigende Fallzahlen ohne Zeitverzögerung zur Anwendung kommen kann.

Am 30. Juni nicht rütteln

Doch die Absage für Rüddels Vorschlag kam so schnell und einmütig aus der ersten Reihe, dass die Bundesregierung offensichtlich gewichtige Gründe sieht, die dafür sprechen, am Stichtag 30. Juni auf keinen Fall zu rütteln.

Denn die fallenden Inzidenzen im Mai, die kaum jemand so schnell erwartet hatte, sind zum einen wohl hauptsächlich auf die inzwischen sehr breite Impfkampagne zurückzuführen. Welchen Beitrag Ausgangssperre und Terminshopping mit Test dazu leisteten, lässt sich indes nur schwer beziffern. Zum anderen haben die fallenden Inzidenzen dazu geführt, dass der Protest gegen die Bundesnotbremse viel schneller als gedacht von der Realität überholt wurde. Statt gegen das Gesetz zu demonstrieren, vergnügten sich die Bundesbürger mehrheitlich in der Frühlingssonne - wegen niedriger Fallzahlen ungebremst. Und das Bundesverfassungsgericht hat bis heute nicht über die mehr als 100 Beschwerden gegen das Gesetz entschieden. Nun scheint es auch nicht mehr zu eilen.

Würde die Große Koalition sich nun jedoch dazu entschließen, die Notbremse zu verlängern, so hätte das zwar derzeit mit hoher Wahrscheinlichkeit keinerlei Auswirkungen auf den Alltag der Deutschen, es würde aber der Debatte um die Verfassungsmäßigkeit der Bundesnotbremse wieder deutlich mehr Fahrt geben. Denn die Argumente der Gegner - allen voran der FDP, aber auch einzelner Abgeordneter anderer Parteien - wurden auch von einigen renommierten Juristinnen und Juristen geteilt.

Gerade die Ausgangssperre stand Ende April stark unter Beschuss: Es seien noch nicht alle alternativen Möglichkeiten zur Kontaktreduzierung ausgeschöpft worden, argumentierten manche der Klagenden. Besonders im Arbeitsleben ließen sich die Kontakte viel stärker verringern, etwa, wenn eine strenge Pflicht zum Homeoffice eingeführt würde. Den Sieben-Tages-Inzidenzwert hielten viele Kritiker aus der Politik, aber auch aus der Wissenschaft für ungeeignet als einzigen Parameter in der Frage, ob strenge Regeln in Kraft treten sollten oder nicht.

Debatte würde nach hinten losgehen

Diese Debatte nun durch eine Verlängerung der Notbremse wieder anzufachen, kann aus Sicht der Bundesregierung nur nach hinten losgehen. Zumal, wenn demnächst der Wahlkampf beginnt und die Frage nach der Verfassungsmäßigkeit der Ausgangssperren ein griffiges Thema für die Opposition sein könnte.

Dann doch lieber am 30. Juni, bei erwarteten niedrigen Zahlen und Frühsommerlaune, die Bundesnotbremse stillschweigend in der Schublade verschwinden lassen. Bei Bedarf und mit der Erfahrung aus diesem Frühjahr könnte man sie von dort deutlich schneller wieder hervorholen und erneut beschließen. Die Erfahrungen der meisten Länder jedoch, die beim Impfen schneller waren als Deutschland, geben bisher Anlass zur Hoffnung, dass Inzidenzen, die durch die Immunisierung der Bevölkerung nach unten gedrückt werden, auch fürs Erste dort unten bleiben.

Das gilt auch für Großbritannien, wo sich bei einer Inzidenz knapp über 30 die Bevölkerung schon wieder in Pubs, Kinos und Theatern amüsiert. Gleichzeitig kommen aus der Wissenschaft erste Warnrufe, weil bei den wenigen Infektionen der Anteil der Variante B.1.617.2 stark zunimmt. Auf niedrigem Niveau sehe man ein exponentielles Wachstum und sorge sich vor einem falschen Sicherheitsgefühl. Die Bundesregierung tut wohl gut daran, den Holzhammer griffbereit in der Schublade zu verstauen.

Quelle: ntv.de

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