Experte gibt Antworten Warum ist Erdogan in Deutschland erfolgreicher als in der Türkei?
28.05.2023, 09:58 Uhr
Warteschlange vor dem türkischen Generalkonsulat in Berlin. In Deutschland lief die Stichwahl bis zum 24. Mai.
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In Deutschland lebende Türken haben bei den türkischen Präsidentschaftswahlen häufiger Amtsinhaber Erdogan gewählt als die Türken in der Türkei. Der Grund liegt in der Sozialstruktur der Wählerschaft.
ntv.de: In Deutschland lebende türkische Staatsbürger haben bei der ersten Runde der türkischen Präsidentschaftswahlen mehrheitlich Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan gewählt - einen Politiker also, dessen Ansehen in Deutschland nicht so gut ist. Ist das ein Zeichen für mangelhafte Integration?
Haci-Halil Uslucan: Ich glaube, dieser direkte Bezug wäre ein Missverständnis. Dieses Wahlergebnis hat mit Integrationsfragen nur indirekt etwas zu tun, eher etwas mit der Sozialstruktur der Wahlberechtigten. In den alten Gastarbeiter-Anwerbeländern, also etwa in Deutschland, Österreich, den Niederlanden und Belgien, ist die Zahl der AKP-Wähler generell sehr hoch. In Ländern wie den USA, Großbritannien, Neuseeland oder Australien liegen die Werte für Erdogan hingegen bei rund 20 Prozent, teilweise noch darunter. Das liegt daran, dass türkische Staatsbürger in diesen Ländern sich stärker aus gebildeten, akademischen Schichten rekrutieren.

Prof. Dr. Haci-Halil Uslucan ist wissenschaftlicher Leiter der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung und stellvertretender Direktor des Instituts für Turkistik der Universität Duisburg-Essen.
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Also Milieus, die auch in der Türkei weniger häufig AKP oder Erdogan wählen.
Genau. Nach Deutschland kamen in den 1960er-Jahren eher Menschen aus ländlichen Regionen der Türkei, die eher konservativ, eher weniger gebildet und eher religiös waren. Auch spätere Generationen haben diese Haltungen vielfach beibehalten. Ich würde daher sagen, dass der Rekrutierungsort die entscheidende Variable ist, nicht so sehr ein Mangel an Integration. Aber natürlich kann eine Wahlentscheidung indirekt auch mit Integrationserfahrungen zu tun haben. Vor allem Menschen, die hier nicht das Gefühl haben, dazuzugehören, die vielleicht Ausgrenzungserfahrungen gemacht haben, könnten geneigt sein, einer sich immer stärker für sie interessierenden Türkei bei Wahlen dieses Interesse zurückzuspiegeln, indem sie Erdogan und der AKP ihre Stimme geben.
Was meinen Sie damit, dass die Türkei sich immer stärker für die Türken im Ausland interessiert?
Grundsätzlich hat die AKP gegenüber anderen Parteien im Ausland einen Mobilisierungsvorteil. Schon allein wegen der 900 Ditib-Moscheen und der mehr als 300 islamistischen Milli-Görüs-Moscheen. Dort wird den Menschen vielleicht nicht explizit gesagt, dass sie die AKP wählen sollen. Aber wenn dort gepredigt wird, wie stark die Religion in einer säkularen Welt bedroht ist, dann ist klar, worum es geht. Zumal die Ditib der verlängerte Arm der türkischen Religionsbehörde ist. Zugleich umarmt die türkische Regierung die Türken im Ausland mit der Errichtung eines Ministeriums für Auslandstürken, mit der Verbesserung der Konsulate, auch mit einer Veränderung des Personals in den Konsulaten.
Inwiefern wurde das Personal in den Konsulaten verändert?
Früher saßen dort Vertreter der kemalistischen Elite, die auf die türkischen Muslime im Ausland herabgeguckt haben. Heute haben die Beschäftigten in den Konsulaten ein ähnliches Profil wie die Menschen, die dort hinkommen. Das sind Aspekte, die die Menschen wahrnehmen und die eine Rolle bei der Wahlentscheidung spielen.
Und die zunehmende politische Repression in der Türkei?
Davon sind die türkischen Wahlberechtigten in Deutschland kaum direkt betroffen. Das gilt auch für die Inflation und den wirtschaftlichen Verfall in der Türkei - was vielleicht erklärt, warum Erdogan und die AKP in Deutschland besser abgeschnitten haben als in der Türkei selbst. Erdogan suggeriert den Türken im Ausland, Teil einer großen Nation zu sein. Von der Misere des türkischen Alltags bekommt man in Deutschland dagegen nicht so viel mit.
Nach einer Übersicht der türkischen Zeitung "Yeni Şafak" gibt es große Unterschiede beim Wahlverhalten zwischen den Städten in Deutschland. In Essen beispielsweise kam die AKP auf 77 Prozent, in Berlin nur auf knapp 49 Prozent. Woran liegt das?
Es gibt in der Tat regional große Unterschiede, dazu haben wir selbst 2017/2018 eine Studie gemacht. Auch da haben wir gesehen, dass Türkeistämmige in Berlin in ihrer Haltung zur AKP am skeptischsten waren. Die türkeistämmige Community in Berlin ist sehr heterogen - Künstler und Kreative aus der Türkei, die die Möglichkeit haben, nach Deutschland zu kommen, gehen eher nach Berlin als in andere deutsche Städte.
Aber warum steht Essen am anderen Ende der Liste?
Da geht es nicht um die Stadt Essen, sondern das Einzugsgebiet des dortigen Generalkonsulats, also beispielsweise noch Duisburg, Bochum, Bottrop und Gelsenkirchen - klassisches Ruhrgebiet. Zwei Drittel der Türkeistämmigen hier haben ihre Wurzeln in den Provinzen Zonguldak und Trabzon am Schwarzen Meer, ebenfalls traditionelle Bergbau-Regionen. Die Menschen von dort sind gewissermaßen vom Bergbau zum Bergbau gekommen. Die Stadt Zonguldak ist eigentlich gar nicht so groß, aber ihre Sichtbarkeit im Ruhrgebiet ist durch die vielen Zonguldak-Vereine sehr hoch. In diesen Vereinen werden die alten religiösen und konservativen Haltungen bewahrt.
In Deutschland gibt es rund 1,5 Millionen türkische Wahlberechtigte. Ist bekannt, wie viele von denen auch die deutsche Staatsbürgerschaft haben?
Insgesamt gibt es 2,83 Millionen türkische Staatsbürger in Deutschland, von denen haben 299.000 auch die deutsche Staatsbürgerschaft. Zieht man die Minderjährigen ab, die nicht wahlberechtigt sind, bleiben knapp 200.000 Wahlberechtigte, die sowohl die deutsche als auch die türkische Staatsbürgerschaft haben.
Warum halten eigentlich so viele Türken in Deutschland an der türkischen Staatsbürgerschaft fest?
Auch zur Frage, was Einbürgerungshemmnisse sind, haben wir eine Studie durchgeführt. Die erste Generation ist emotional noch stark mit der Türkei verbunden. Drei Viertel von ihnen haben noch Verbindungen zu Angehörigen in der Türkei. Für sie ist die Türkei kein Urlaubsland, sondern ein Land mit einer hohen emotionalen Bedeutung. Sie würden die deutsche Staatsbürgerschaft wohl annehmen, aber bislang hätten sie dafür die türkische abgeben müssen. Das war für viele eine große Hürde. Wenn jetzt Mehrstaatlichkeit zugelassen wird, dann ist davon auszugehen, dass mehr Türkeistämmige sich für die deutsche Staatsbürgerschaft entscheiden.
Sie sehen das als Vorteil?
Ja, denn mit einer Einbürgerung geht in der Regel auch eine stärkere Identifikation mit Deutschland einher. Insofern ist die Einbürgerungsförderung auch ein wichtiger Aspekt, um Menschen in hiesige politische Prozesse einzubeziehen. Das beeinflusst dann auch die Sicht auf die türkische Politik: Unter denen, die nur die türkische Staatsbürgerschaft haben, war der Anteil der AKP-Wähler um 15 Prozentpunkte höher als bei der Gruppe mit beiden Staatsangehörigkeiten.
Mit Haci-Halil Uslucan sprach Hubertus Volmer
Quelle: ntv.de