Hintergründe der Krawalle Was ist da eigentlich los beim Eritrea-Festival in Gießen?
09.07.2023, 13:41 Uhr Artikel anhören
Deutsche Polizisten stehen Teilnehmern der Gegendemonstration von dem Eritrea-Festival in Gießen gegenüber. Bei Letzteren soll es sich vor allem um Männer der jüngeren Flüchtlingsbewegung aus dem abgeschotteten Land handeln.
(Foto: dpa)
Im eigentlich beschaulichen Gießen kommt es am Wochenende zu Ausschreitungen: Dutzende Polizisten werden dabei verletzt. Die Randalierer richten ihren Zorn gegen das sogenannte Eritrea-Festival in der örtlichen Hessenhalle. Aber was ist der Hintergrund des Aufruhrs? Was hat es mit dem Eritrea-Festival auf sich? Und warum wird dagegen protestiert? Die wichtigsten Fakten in der Übersicht.
Was ist am Wochenende passiert?
Am Samstag hatten sich Gegner des zweitägigen Eritrea-Festivals gewalttätige Auseinandersetzungen mit der Polizei geliefert. Dabei wurden 28 Polizisten verletzt, sieben von ihnen schwerer. Sie erlitten vor allem Platzwunden, Bänderrisse und -zerrungen. Andere Beamte konnten laut Polizei den Einsatz trotz leichter Verletzungen fortsetzen oder meldeten die Verletzung erst später.
Das war geschehen: Gegner des Festivals hatten Polizisten angegriffen und unter anderem versucht, auf das Festivalgelände zu gelangen. Die Beamten wurden mit Steinen und Flaschen beworfen, auch Rauchbomben wurden gegen sie eingesetzt. Den Bau eines Molotow-Cocktails hatte die Bundespolizei verhindern können. Insgesamt waren mehr als 1000 Polizisten im Einsatz.
Insgesamt wurden laut Polizei 100 Ermittlungsverfahren eingeleitet, unter anderem wegen Körperverletzung und schwerem Landfriedensbruch. Mehr als 400 Menschen wurden kontrolliert, gegen einen großen Teil von ihnen wurden Platzverweise verhängt. Rund 100 Personen seien in Gewahrsam genommen worden, sie seien zum Teil aus dem europäischen Ausland angereist.
Schon im August 2022 war es bei der vorangegangenen Veranstaltung zu gewaltsamen Ausschreitungen gekommen. Etwa 100 Menschen hatten damals Helfer und Besucher der Veranstaltung angegriffen und 26 von diesen verletzt. Auch sieben Polizisten erlitten damals leichte Verletzungen.
Was ist das Eritrea-Festival?
Das zweitägige Festival in Gießen geht von Samstag bis Sonntagnachmittag. Es wird in der Hessenhalle veranstaltet, die ein Stück außerhalb der Innenstadt auf der anderen Lahn-Seite liegt. Der Zentralrat der Eritreer in Deutschland rechnete an beiden Tagen mit jeweils etwa 2500 Besuchern.
Die Veranstalter des Festivals sprechen nach Angaben der Stadt von einem Familienfest. Auf dem Programm stünden außer Musik und Essen auch politische Reden. Worum es in den Reden gehe, sei nicht bekannt, sagte eine Stadtsprecherin. Das Festival sei vor mehr als zehn Jahren von Frankfurt nach Gießen gezogen, wohl wegen der zentralen Lage der mittelhessischen Stadt und der für das Fest geeigneten Halle.

Das Festival soll sich an Eritreer richten, die bereits vor vielen Jahrzehnten aus dem Land geflohen sind.
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Veranstalter ist der Zentralrat der Eritreer in Deutschland, der wegen seiner Nähe zu dem Regime in dem ostafrikanischen Land als umstritten gilt. Laut einem Bericht der "tageszeitung" (taz) handelt es sich bei dem Festival um eine Propagandaveranstaltung für die Diktatur in dem abgeschotteten Land: In den vergangenen Jahren seien immer wieder hohe Generäle, Musikgruppen und Propagandisten aus Eritrea eingeflogen worden.
Was ist dran an den Vorwürfen?
Der Veranstalter des Eritrea-Festivals bestreitet, dass auf dem Festival Propaganda für die Regierung des ostafrikanischen Landes verbreitet werde. Dieser Vorwurf sei völlig haltlos, sagte Johannys Russom vom Vorstand des Zentralrats der Eritreer in Deutschland. Auch die Behauptung, Generäle würden bei dem Festival auftreten, stimme nicht. "Das sind keine Generäle, das sind normale Menschen aus Eritrea. Warum sollten hier Generäle kommen?"
Vielmehr sei die Veranstaltung ein "Begegnungszentrum für alle Eritreer, die ihre Erfahrungen austauschen", sagte Russom. Die Eritreer seien seit den 1980er-Jahren eine große Gemeinde in Deutschland, mittlerweile in zweiter und dritter Generation. "Wir sind ein Teil Deutschlands, wir sind Deutsche, aber wir stammen aus Eritrea." Wenn suggeriert werde, dass sie Ausländer seien, sei dies struktureller Rassismus.
Wer sind die Gegendemonstranten?
Wie die taz im Vorfeld unter Verweis auf die Polizei berichtete, wollte eine Gruppe namens "Brigade N’Hamedu" mit mehreren Hundert Menschen das Festival stören. Die Gruppe soll europaweit Menschen über TikTok mobilisiert haben. Auch die oppositionelle Diaspora-Organisation "United4Eritrea" wollte laut der "Gießener Allgemeinen Zeitung" gegen das Festival vorgehen, allerdings mit juristischen Mitteln.

Teilnehmer der Gegendemonstration von dem Eritrea-Festival in Gießen ziehen durch die Innenstadt.
(Foto: dpa)
Laut dem taz-Bericht ist die eritreische Diaspora in Deutschland tief gespalten. Auf der einen Seite stünden Menschen, die bereits während des Unabhängigkeitskrieges von Äthiopien im Jahr 1993 aus Eritrea geflohen seien. Diese wollten nicht wahrhaben, dass sich aus der nationalen Befreiungsbewegung in ihrem Land eine Diktatur entwickelt habe. Auf der anderen Seite stehe eine Gruppe von Eritreern, die erst nach der Jahrtausendwende vor der Diktatur geflohen war. Von beiden wohnen laut dem taz-Bericht große Gruppen in Hessen.
Aus Eritrea stammt mit mehr als 70.000 Flüchtlingen eine der größten nordafrikanischen Flüchtlingsgruppen in Deutschland. Noch vor einem Jahrzehnt waren es weniger als 10.000. Viele der Geflüchteten aus Eritrea kommen laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge allein und über Umwege durch viele Länder nach Deutschland. Überwiegend soll es sich um junge Männer handeln, die vor dem "Nationaldienst", einem strengen Wehrdienst- und Zwangsarbeitssystem, ins Ausland fliehen.
Wie ist die Lage in Eritrea heute?
Eritrea mit seinen rund drei Millionen Einwohnern liegt im Nordosten Afrikas am Roten Meer und ist international weitgehend abgeschottet. Seit einer in einem jahrzehntelangen Krieg erkämpften Unabhängigkeit von Äthiopien vor 30 Jahren regiert Präsident Isayas Afewerki in einer Ein-Parteien-Diktatur das Land. Die Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt das Land als "Autokratie ohne Verfassung und Rechtsstaatlichkeit" ohne "bürgerliche Freiheiten und mit einem unbefristeten 'Nationaldienst'".
Was sagen deutsche Politiker?
Hessens Innenminister Peter Beuth von der CDU forderte nach den Ausschreitungen in Gießen die Bundesregierung auf, den Botschafter des ostafrikanischen Landes einzubestellen. "Der eritreischen Regierung muss deutlich gemacht werden, dass eritreische Konflikte nicht auf deutschem Boden ausgetragen werden dürfen", sagte er. "Unsere Polizistinnen und Polizisten sind nicht der Prellbock für Konflikte von Drittstaaten."
Der stellvertretende AfD-Bundessprecher Stephan Brandner kritisierte, dass das Eritrea-Festival in Deutschland stattfinden dürfe. "Die Diktatur möge sich selbst in Eritrea feiern. So etwas hat in unserem Land nichts verloren." Bundesinnenministerin Nancy Faeser von der SPD twitterte: "Die massive Gewalt und Randale gegen Polizeibeamte in Gießen verurteile ich scharf. Danke an alle Einsatzkräfte! Meine Gedanken sind bei den verletzten Beamten."
Quelle: ntv.de, kst/dpa