Politik

Endspiel im Unterhaus Was man zum Brexit-Votum wissen muss

May kämpft bis zur letzten Minute für ihren Deal. Selbst wenn die Erfolgsaussichten gering sind.

May kämpft bis zur letzten Minute für ihren Deal. Selbst wenn die Erfolgsaussichten gering sind.

(Foto: dpa)

Für Premierministerin Theresa May kommt heute die Stunde der Wahrheit. Das britische Unterhaus stimmt über ihren Brexit-Deal ab. Doch was bedeutet er eigentlich? Und wie hoch sind die Chancen, dass er durchkommt? Was bedeutet ein harter Brexit? Hier die wichtigsten Fragen und Antworten.

Worum geht es bei der Brexit-Abstimmung?

Wenn das britische Parlament heute über Mays Brexit-Deal entscheidet, geht es um viel. Das Abkommen sieht vor, dass Großbritannien am 29. März aus der EU austritt. Für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember 2020, die noch verlängert werden kann, wollen beide Seiten über ein mögliches Freihandelsabkommen verhandeln. In dieser Zeit bleibt Großbritannien Teil des EU-Binnenmarktes und der Zollunion und muss alle EU-Gesetze befolgen. Auch die Urteile des Europäischen Gerichtshofs gelten weiter. Allerdings darf Großbritannien in Brüssel nicht mehr mitbestimmen. Für Irland sieht der Deal eine Auffanglösung, den sogenannten Backstop, vor.

Was ist der Backstop?

Der Backstop ist eine Art Sicherheitsnetz für Irland. Er greift nur dann, wenn sich Großbritannien und die EU in den nächsten Jahren nicht auf ein Freihandelsabkommen einigen können. Er soll eine harte Grenze auf der Insel verhindern und ein mögliches Wiederaufflammen des jahrzehntelangen blutigen Konflikts zwischen katholisch-irischen Nationalisten und protestantisch-britischen Unionisten. Demnach soll Großbritannien in der Zollunion mit der EU bleiben, Nordirland außerdem im europäischen Binnenmarkt - und damit zunächst in der EU. Die Grenzkontrollen würden verlagert: Die Grenze würde faktisch zwischen der britischen Hauptinsel und Nordirland verlaufen, englisches Schlachtvieh müsste etwa bei der Einfuhr nach Nordirland untersucht werden. Kurz vor der Abstimmung im Unterhaus stellten Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und Ratspräsident Donald Tusk noch einmal klar, dass der Backstop eigentlich vermieden werden soll. Wenn das nicht gehe, solle er nur für begrenzte Zeit wirksam werden.

Wie groß sind die Chancen für Mays Brexit-Deal?

Selbst in der Regierung glaubt kaum mehr jemand, dass der Deal durchkommt. Schon im Dezember hatte May die Abstimmung in letzter Sekunde verschoben, weil die Niederlage zu offensichtlich war. Allein bei Mays konservativen Tories wird am Dienstag mit rund 100 Abweichlern gerechnet. Auch die nordirische Protestantenpartei DUP, auf die Mays Regierung angewiesen ist, will gegen das Abkommen stimmen. Der Chef der oppositionellen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, hofft auf Neuwahlen nach einem Scheitern Mays. Er kündigte bereits ein Misstrauensvotum "bald" nach einer Ablehnung des Deals an.

Woran stoßen sich die Kritiker?

Die Kritik an Mays Brexit-Deal kommt aus den unterschiedlichsten Lagern. Für viele konservative Brexit-Anhänger fesselt das Abkommen Großbritannien weiter an die EU. Zu ihnen gehören etwa der einstige Außenminister Boris Johnson oder der erzkonservative Hinterbänkler Jacob Rees-Mogg, der im Dezember einen (erfolglosen) parteiinternen Misstrauensantrag gegen May betrieben hatte. Sie kritisieren, dass sich die Premierministerin Brüssel unterworfen habe, Johnson nannte das Abkommen "Vasallenstaat-Zeug". Kein Deal ist ihnen lieber als Mays Deal. Andere Kritiker wiederum hoffen auf eine engere Bindung an die EU, auf eine Art halbe Mitgliedschaft nach dem Norwegen-Modell. Und dann gibt es eine große Gruppe, die nach wie vor auf einen Exit vom Brexit hoffen. Quer durch die Parteien gibt es inzwischen Rufe nach einem zweiten Referendum, was die Regierung bislang ablehnt.

Was ist ein "harter Brexit"?

Wieder was gelernt

Falls Sie wissen möchten, warum Beobachter ein zweites Brexit-Referendum für Wunschdenken halten, hören Sie rein in diese Ausgabe von "Wieder was gelernt" - dem Podcast von n-tv.de. Abonnieren Sie unsere Podcasts auf iTunes, Spotify und Deezer oder per Feed in der Podcast-App Ihrer Wahl.

"Harter Brexit" bedeutet, dass Großbritannien die EU ohne Abkommen oder ohne Übergangslösung verlässt. Die Beziehungen aus 45 Jahren EU-Mitgliedschaft würden dann schlagartig am 29. März gekappt. Tausende Regeln für den grenzüberschreitenden Handel und Verkehr würden abrupt ungültig werden. Großbritannien müsste von der EU als Drittstaat behandelt werden.

Was wären die unmittelbaren Folgen?

Die Folgen sind nicht abzusehen. Fest steht, dass sofort Zölle und Grenzkontrollen eingeführt werden müssten. Flugzeuge müssten womöglich am Boden bleiben, Waren würden im Zoll feststecken und Reisende in Grenzkontrollen. Um die Folgen abzumildern, könnten Großbritannien und die EU Notvereinbarungen schließen und bestehende Regelungen für eine Übergangszeit verlängern. Dabei dürfte es vor allem um den Luftverkehr, Aufenthalts- und Visafragen sowie Finanzdienstleistungen gehen.

Was bedeutet der Brexit für die Wirtschaft?

Auch das ist nicht zu beziffern. Unstrittig ist, dass der Brexit sowohl für die EU als auch für Großbritannien negative Auswirkungen haben wird. Die Folgen hängen vor allem davon ab, wie die künftige Beziehung zwischen der EU und den Briten ausgestaltet wird.

Und wenn es zum harten Brexit kommt?

Der britische Unternehmerverband CBI rechnet in diesem Fall damit, dass die britische Wirtschaft einbricht. Sie könnte demnach um bis zu acht Prozent schrumpfen, was entsprechende Jobverluste und geringere Steuereinnahmen bedeutet. Ein solcher Austritt aus der EU ohne Abkommen sei schlicht "nicht machbar", sagte CBI-Chefin Carolyn Fairbairn. Die Kosten und Zölle für die Unternehmen würden steigen, die Häfen nicht mehr funktionieren und so die Unternehmen von den Gütern trennen, die sie für die Versorgung ihrer Kunden bräuchten. Handelsabkommen mit Ländern wie Japan, Südkorea oder der Türkei wären "verloren". Die Bank von England erwartet, dass das britische Pfund um etwa 25 Prozent abstürzt. Auch der Immobilienmarkt würde schwer getroffen. Die Zentralbanker gehen davon aus, dass die Hauspreise im Schnitt um 30 Prozent fallen. Die britische Exportwirtschaft wird nach Einschätzung des Kreditversicherers Euler Hermes im ersten Jahr Ausfuhren im Wert von 30 Milliarden Pfund (umgerechnet 33,2 Milliarden Euro) verlieren.

Sind die Folgen jetzt schon zu spüren?

Ja. Wegen drohender Lieferengpässe horten britische Unternehmen Importware, die sie für ihre Produktion dringend benötigen. Laut Euler Hermes gibt es "Hamsterkäufe wie nach einer Sturmwarnung". Inzwischen sind in Großbritannien aber kaum mehr Lagerflächen zu bekommen, da auch Supermärkte und Pharmakonzerne sich auf Versorgungsengpässe vorbereiten und Lebensmittel und Medikamente auf Vorrat kaufen. Die britische Polizei fürchtet im Fall eines harten Brexit Hamsterkäufe der Bevölkerung und rät Einzelhändlern zu zusätzlichen Sicherheitsmaßnahmen

Was heißt das für die deutsche Wirtschaft?

Auch die EU wird den Brexit wirtschaftlich zu spüren bekommen. Euler Hermes zufolge wären die deutschen Exporteure die größten Verlierer. Großbritannien ist Deutschland fünftwichtigster Handelspartner. Das Handelsvolumen beträgt 122 Milliarden Euro. "Die britische Wirtschaft wäre unmittelbaren Rezessionsgefahren ausgesetzt, die auch an Deutschland nicht unbemerkt vorüberziehen würden", sagt BDI-Präsident Dieter Kempf. Derweil befürchtet der Präsident des Deutschen Industrie-und Handelskammertages, Eric Schweitzer, einen "herben Einschnitt" mit viel Verunsicherung. Zudem würden Just-in-Time Produktionen und Lieferketten unterbrochen. "Ohne Deal würden zusätzlich Millionen an Zollanmeldungen und Milliarden an Zöllen fällig", sagt Schweitzer und weist darauf hin, dass in Deutschland ungefähr 750.000 Arbeitsplätze vom Handel mit Großbritannien abhingen. Die deutsche Außenwirtschaft äußerte sich ebenfalls besorgt. "Bei einem harten Brexit ohne Freihandelsabkommen drohen deutschen Unternehmen Kosten in Milliardenhöhe", so der Präsident des Außenhandelsverbands BGA, Holger Bingmann. "Alle Waren nach und aus Großbritannien müssten an den Grenzen deklariert, Herkunftsnachweise erbracht und Produkte womöglich nach neuen britischen Standards hergestellt werden."

Und was heißt das langfristig?

Egal wie hart die Auswirkungen des EU-Austritts sind, irgendwann werden sowohl Großbritannien als auch die Union die Folgen überwunden haben. "Letztlich übersteht man alles", sagte Ryanair-Chef und Brexit-Gegner Michael O'Leary vor dem Brexit-Referendum im Gespräch mit n-tv.de. "Europa hat zwei Weltkriege überstanden. Das heißt aber nicht, dass wir mit einem Weltkrieg besser dran wären."

Alles zur Brexit-Abstimmung finden Sie in unserem Liveticker.

Quelle: ntv.de, mit dpa und AFP

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