Luftangriffe und Artilleriefeuer Was über die Offensive in der Ostukraine bekannt ist
19.04.2022, 16:43 Uhr
Ein ukrainischer Soldat nach einem russischen Artillerieangriff vor einer brennenden Garage. Das Bild entstand am Montag.
(Foto: dpa)
Was sich seit Wochen ankündigte, ist seit Montagabend Realität: "Die Schlacht von Donbass" habe begonnen, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj. Nachdem Russland seine Truppen aus Teilen der Ukraine abgezogen und sie im Osten des Landes aufgestockt hatte, starteten die russischen Streitkräfte ihre Großoffensive in den Regionen Donezk und Luhansk. Auch in anderen Gebieten, etwa in der Region Charkiw, beschossen sie nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau zahlreiche militärische Objekte.
Das ganze Ausmaß dieser "zweiten Phase des Krieges", wie es der ukrainische Stabschef Andrij Yermak ausdrückte, wird sich wohl erst in den kommenden Tagen oder Wochen zeigen. Viele Meldungen aus den umkämpften Gebieten lassen sich nicht überprüfen. Allerdings zeichnet sich bereits ab, wie die russische Armee im Osten der Ukraine vorgeht und welche Städte und Orte besonders unter Beschuss stehen.
In welchen Gebieten wird gekämpft?
Der Gouverneur der Region Luhansk, Serhij Hajdaj, sprach angesichts verstärkter russischer Angriffe von einer "schwierigen Situation". "Unsere Verteidiger halten die Verteidigungslinie", sagte Hajdaj im ukrainischen Fernsehen. Angriffe bei den Städten Rubischne und Popasna seien zurückgeschlagen worden. Gleichzeitig rief er die verbliebenen Einwohner auf, sich in Sicherheit zu bringen.
Es sollen noch etwa 70.000 Menschen in dem Gebiet ausharren, das von der Regierung kontrolliert wird. Der ukrainische Präsidentenberater Olexij Arestowytsch sagte, das Ziel des russischen Vorstoßes in der Luhansker Region sei, die ukrainischen Truppen in den Städten Rubischne, Lyssytschansk und Sjewjerodonezk zu isolieren.
Im Charkiwer Gebiet greifen laut Arestowytsch 25.000 russische Soldaten von Isjum aus in Richtung Slowjansk und Kramatorsk in der Region Donezk an. Auch bei Awdijiwka nahe Donezk werde eine Offensive versucht. Russische Artillerieangriffe nahe der südukrainischen Stadt Mykolajiw und der ostukrainischen Metropole Charkiw dienen aus seiner Sicht vor allem dazu, ukrainische Truppen niederzuhalten.
Währenddessen kann Russland bei seiner Offensive offenbar Geländegewinne erzielen. Die Kleinstadt Kreminna, in der einst mehr als 18.000 Menschen lebten, ist nach Angaben örtlicher Behörden mittlerweile in russischer Hand. Sie sei von allen Seiten angegriffen worden, sagte der Gouverneur der Region Luhansk, Hajdaj. Die ukrainischen Streitkräfte hätten sich zurückziehen müssen und würden nun neue Stellungen beziehen, um ihren Kampf fortzusetzen. Es sei unmöglich, die Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung zu beziffern. Nach offizieller Zählung seien es rund 200, aber tatsächlich seien es viel mehr, so Hajdaj.
Teile des Donbass werden bereits seit 2014 von pro-russischen Separatisten beherrscht. Die Eroberung weiterer Teile der Region würde es Russland ermöglichen, einen südlichen Korridor zu der 2014 völkerrechtswidrig annektierten Krim-Halbinsel herzustellen.
Wie gehen die russischen Streitkräfte vor?
Nach Angaben aus Moskau hat die russische Armee in der Nacht auf Dienstag Dutzende Luftangriffe auf die Ostukraine geflogen. Außerdem hätten "hochpräzise luftgestützte Raketen" 13 ukrainische Stellungen in Teilen des Donbass getroffen, teilte das russische Verteidigungsministerium mit. Bei weiteren Luftangriffen seien "60 militärische Einrichtungen" getroffen worden, darunter auch welche in Städten nahe der östlichen Frontlinie.
Nach Angaben des Ministeriums zerstörten russische Truppen zwei Lagerhäuser mit Sprengköpfen von taktischen Toschka-U-Raketen in Tscherwona Poljana in der Region Luhansk und in Balaklija in der Region Charkiw. Insgesamt seien in der Nacht 1260 militärische Ziele durch Raketen und Artillerie getroffen worden.
Das Vorgehen der russischen Armee deckt sich mit der Prognose des österreichischen Generalmajors Günter Hofbauer im Interview mit ntv.de vergangene Woche. Darin sagte Hofbauer, dass Russland zunächst entweder mit Artillerie oder aus der Luft angreifen werde, um die ukrainischen Verteidiger zu schwächen. "Im nächsten Schritt folgen die Bodentruppen und wollen Gelände in Besitz nehmen."
Hofbauer zufolge könnte sich die Offensive auf diese Weise in die Länge ziehen. "Die Angriffsgeschwindigkeit ist in diesem Fall auf einen gewonnenen Geländekilometer pro Stunde begrenzt - höchstens 1,5 Kilometer. Es handelt sich also nicht um schnelle Operationen", sagte der Generalmajor. Wie ntv-Reporter Carsten Lueb aus der Ukraine berichtet, versucht Russland, den Osten des Landes mit einer "Zangenbewegung" einzunehmen. Das entspricht der Einschätzung mehrerer Militärexperten. Sie gehen davon aus, dass die russischen Truppen die ukrainischen Streitkräfte im Donbass einkesseln wollen.
Angesichts der schweren Artillerieangriffe auf Donezk, Luhansk und Charkiw sagte die Sicherheitsexpertin Claudia Major im ZDF, dass sich die russischen Streitkräfte wohl darauf konzentrieren werden, "dieses Gebiet zu kontrollieren und einzunehmen, sehr rücksichtslos im Vorgehen". Um diesem "sehr starken Angriff" widerstehen oder gar Gebiete zurückerobern zu können, sei die Ukraine auf weitere Unterstützung - also Waffenlieferungen - aus dem Westen angewiesen.
Wie ist die Lage in Mariupol?
In der umkämpften südostukrainischen Hafenstadt Mariupol haben die russischen Streitkräfte nun eine einseitige Feuerpause verkündet. Zugleich öffneten sie nach Angaben des Verteidigungsministeriums in Moskau einen "humanitären Korridor" für ukrainische Kämpfer, die sich dort im Stahlwerk Asovstal verschanzt haben.
Generaloberst Michail Misinzew appellierte an die Kämpfer, sich freiwillig in russische Gefangenschaft zu begeben. Die Ukrainer lehnen dies bislang strikt ab. "Ich möchte besonders betonen, dass die russische Führung allen, die ihre Waffen niederlegen, das Leben, die völlige Sicherheit und medizinische Versorgung garantiert", sagte der Generaloberst.
Die ukrainischen Einheiten bekräftigten allerdings bei Telegram, dass sie die Waffen nicht niederlegen, sondern weiter für die Verteidigung der Stadt kämpfen würden. Die Ukraine hatte bereits am Wochenende ein Ultimatum verstreichen lassen. Russland drohte mit der "Vernichtung" aller Kämpfer.
Quelle: ntv.de, mbe/dpa/AFP/rts