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Lügt eine, dann lügen alle? Wer Gelbhaar nur als Opfer sieht, urteilt vorschnell

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Gelbhaar streitet alle Vorwürfe gegen ihn ab.

Gelbhaar streitet alle Vorwürfe gegen ihn ab.

(Foto: picture alliance / Jörg Carstensen)

Erfundene Belästigungsvorwürfe kosten Grünenpolitiker Stefan Gelbhaar die Kandidatur für die Berliner Landesliste. Die Empörung ist groß, für viele ist der Fall klar: Gelbhaar ist einer Intrige zum Opfer gefallen. Das kann stimmen, aber es gibt noch andere Fälle.

Die Causa Gelbhaar weitet sich zu einem handfesten Skandal aus. Nachdem bekannt geworden ist, dass die Berichterstattung des RBB in Teilen falsch war und mehrere angebliche Belästigungsvorwürfe gegen den Berliner Politiker frei erfunden sind, ist der Schaden bereits angerichtet: Gelbhaar kann in seinem Wahlkreis nicht mehr für die Grünen antreten und steht vor dem Scherbenhaufen seiner politischen Karriere. Die Grünen wollen deshalb mehrere Strafanzeigen stellen. Das ist wichtig und richtig so, denn eine falsche Beschuldigung ist eine schwere Straftat mit weitreichenden Folgen - für Gelbhaar, aber auch für die anderen Beteiligten.

Denn für viele scheint der Fall jetzt klar: Gelbhaar wurde Opfer einer Diffamierungskampagne, von einer "bösen Intrige" ist die Rede und seine politische Karriere wurde einzig aufgrund von "Lügen" zerstört. Doch stimmt das? Womöglich nicht! Denn die mutmaßlich erfundenen Vorwürfe sind nicht der einzige Skandal. Die Reaktionen auf den Fall zeigen, wie unsere Gesellschaft noch immer mit Belästigungsvorwürfen umgeht.

Was für viele Beobachter und Parteikollegen scheinbar keine Rolle spielt: Neben dem mit hoher Wahrscheinlichkeit erfundenen Vorwurf einer Grünen-Bezirkspolitikerin halten sieben weitere Personen nach wie vor an ihren Anschuldigungen gegen Gelbhaar fest. Diese sieben Personen wurden noch einmal von der Ombudsstelle in Berlin kontaktiert, um auszuschließen, dass es sich dabei ebenfalls um Betrügerinnen handelt. Zudem wurde eine Kommission einberufen, die sich um die Aufklärung der weiteren Fälle bemüht. Und trotzdem sehen viele Gelbhaar weiterhin als Opfer und nicht als mutmaßlichen Täter. Wie kann das sein?

Ja, die Unschuldsvermutung gilt. Aber ...

Die ersten ziehen bereits Konsequenzen. Der Grünen-Politiker Özcan Mutlu verlässt die Partei, weil der Fall Gelbhaar aus seiner Sicht kein Einzellfall, sondern ein "tief verwurzeltes strukturelles Problem im grünen Landesverband" sei. Was genau er damit meint, lässt er offen. Gelbhaar aber sei "aufgrund einer haltlosen und offensichtlich falschen Anschuldigung sexueller Belästigung nicht nur öffentlich diffamiert, sondern politisch vernichtet" worden. Dass es noch immer weitere Anschuldigungen gibt, lässt er unerwähnt.

Und er ist nicht der Einzige: Immer wieder heißt es, Gelbhaar hätte seine Direktkandidatur aufgrund falscher Anschuldigungen verloren - doch sollten die Vorwürfe sieben weiterer Personen nicht Anlass dafür sein, die Kandidatur eines Politikers für eines der höchsten Ämter im Land zumindest zu überdenken? Ja, die Unschuldsvermutung gilt. Auch für Politiker. Trotzdem muss man sich als Partei fragen, ob man mit diesem Politiker bei der Bundestagswahl antreten will. Kann man diese Entscheidung auf die Wähler abwälzen?

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Auch die Aussagen von Kanzlerkandidat Robert Habeck nach seinem anfänglichen Schweigen zu dem Fall zeigen, auf welchem wackeligen Fundament unser verbesserter Umgang mit Belästigungsvorwürfen steht. Die mögliche Intrige, so Habeck, habe gleich in mehrfacher Hinsicht Schaden angerichtet - gegen Gelbhaar, aber auch, weil Frauen einen Raum bräuchten, "in dem sie Belästigungen ansprechen könnten". Dieser gesellschaftliche Fortschritt werde jetzt "quasi kaputt gemacht". Sollte das stimmen, dann wäre das ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft in Deutschland. Wenn ein Fall von falscher Verdächtigung reicht, um die Glaubwürdigkeit aller Betroffenen infrage zu stellen, hat sich unsere Gesellschaft wirklich nicht weiterentwickelt.

Im Fall Gelbhaar ist vieles schiefgelaufen: nicht eingehaltene journalistische Standards, eine gefälschte eidesstattliche Erklärung, ein falscher Umgang mit den Betroffenen in der Partei. Deswegen aber einen Politiker von jeglicher Schuld öffentlich freizusprechen und die mutmaßliche Belästigung sieben weiterer Personen verpuffen zu lassen, entzieht sich jeder Verantwortung und verharmlost die Belästigungsvorwürfe, die weiterhin gegen Gelbhaar im Raum stehen. Bevor voreilige Schlüsse gezogen werden, sollten daher erst alle Vorwürfe sorgfältig untersucht werden. Nur weil jemand Opfer ist, schließt es nicht aus, dass er auch Täter sein kann.

Quelle: ntv.de

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