Öffnen oder nicht öffnen Wer steht wo an der neuen Konfliktlinie?
27.04.2020, 17:41 Uhr
Laschet möchte Merkels Nachfolger werden - nun gehört er zum Lager der "Öffner".
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Debatte um das Wiederhochfahren in der Corona-Krise beherrscht die Schlagzeilen. Die Diskussion könnte zur neuen großen Konfliktlinie in der deutschen Politik werden. Wie ähnlich ist die Debatte mit Krisensituationen der Vergangenheit - und wer steht dabei wo?
Ob sein Auftritt bei "Anne Will" gelungen war, wird NRW-Ministerpräsident Armin Laschet für sich entscheiden müssen. Mal sagt er, es sei ungemein wichtig, nun "abzuwägen". Dann heißt es wieder von ihm, es sei angesichts der unsicheren Faktenlage gar nicht möglich, abzuwägen. Er beklagt, die Virologen kämen immer mit etwas Neuem: erst den Verdopplungszeiten, dann der R-Zahl, jetzt hieße es, es solle nur noch wenige Hundert Neuinfektionen täglich geben, damit die Corona-Beschränkungen aufgehoben werden können. Einige Beobachter spekulieren, ob Laschet mit seinem Auftritt seine mögliche Kanzlerschaft vielleicht bereits verspielt haben könnte. Dafür, das zu beurteilen, ist es erstens deutlich zu früh. Und zweitens ist es eher unwahrscheinlich, dass diese einzelne Sendung Laschet seine Karriere kostet.
Aber der gestrige Auftritt hat erneut sehr deutlich gezeigt, wie unterschiedlich die Auffassungen zum Wiederhochfahren des Landes auch innerhalb der Union sind und wie vehement Laschet seine Position zu verteidigen versucht. Er fordert schon eine ganze Weile einen schnellen Rückbau der Corona-Maßnahmen. Damit weicht er deutlich von der Meinung von Kanzlerin Merkel ab, der alles ein wenig zu rasant geht. Bei ihrer Regierungserklärung vergangene Woche sagte Angela Merkel, die Lockerungen seien ihr teilweise "zu forsch". Laschet dürfte sich durchaus angesprochen gefühlt haben, demonstrierte aber gestern erneut, dass er von seiner Position nicht abrücken will - trotz Ansage. Wo führt das hin? Und wer steht bei diesem Konflikt wo?
Es spricht viel dafür, dass aus der Debatte um die Maßnahmen zur Corona-Eindämmung die nächste große Konfliktlinie der deutschen Politik wird. Die Debatte hat jedenfalls in manchen Punkten Ähnlichkeit mit vergangenen Diskussionen, die sich aus politischen Ausnahmesituationen ergeben haben. So haben auch Euro- und Finanzkrise, sowie die Flüchtlingskrise - um zwei Beispiele zu nennen - bei vielen Menschen existenzielle Ängste ausgelöst. Beide Krisen haben zudem lange angehalten und hatten ihre Ursache nicht in Deutschland. Nach bisherigem Kenntnisstand trifft dies auch auf die Corona-Krise zu.
Angst gleich auf mehreren Ebenen
Übertreffen könnte die Bedeutung der Pandemie andere Krisen im Hinblick auf die Debatte in Deutschland aber, weil sie nicht vor allem in Einzelbereichen Befürchtungen auslöst - wie Sicherheitsbedenken in der Flüchtlingskrise oder wirtschaftliche Befürchtungen in der Finanzkrise - sondern gleich mehrere Ängste gleichzeitig anspricht. Viele Menschen sorgen sich simultan sowohl um ihre persönliche Gesundheit, den möglichen Kollaps des Gesundheitssystems als auch um ihre wirtschaftliche Existenz.
Ähnlich wiederum ist, dass die Koordinaten der nun entstandenen Konfliktlinie wieder durch die Mitte der Gesellschaft zu führen scheinen. Und dies betrifft vor allem die Union. Merkel, Gesundheitsminister Jens Spahn, Wirtschaftsminister Peter Altmaier, Kanzleramtsminister Helge Braun oder Bildungsministerin Anja Karliczek stehen dabei für einen vorsichtigen Kurs, auf Länderebene ist es vor allem Bayerns Ministerpräsident Markus Söder. Wissenschaftliche Rückendeckung bekommen sie von den Virologen Christian Drosten und Alexander Kekulé, die ebenfalls für eine langsame Öffnung plädieren.
Unionspolitiker, die von dem Kurs deutlich abweichen, finden sich im Kabinett weniger, sondern eher in den Ländern. Das prominenteste Beispiel ist Laschet, aber auch Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer gehört dazu. In der Fraktion gibt es ebenfalls Stimmen für eine baldige Lockerung: Dafür spricht sich prominent etwa der Chef der Mittelstandsvereinigung, Carsten Linnemann, aus. Fraktionschef Ralph Brinkhaus mahnte vergangene Woche in einem "Spiegel"-Interview, die "Zeit der Schnellschüsse" der Regierung sei jetzt vorbei. Die Dominanz der Exekutive mache ihm "richtig Sorgen". Bei einer Rede im Bundestag warnte er davor, die Kosten aus den Augen zu verlieren. Der prominenteste Wissenschaftler, der sich ein schnelleres Ende des Shutdowns vorstellen kann, ist der Virologe Hendrik Streeck.
Und auch ein alter Weggefährte der Kanzlerin hat sich in der Sache zu Wort gemeldet. Am Sonntag warnte Wolfgang Schäuble in einem Interview mit dem "Tagesspiegel" davor, dem Schutz des Lebens alles unterzuordnen. "Wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig." Wenn es überhaupt einen absoluten Wert im Grundgesetz gebe, dann sei das die Würde des Menschen. "Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen."
Ist das schon eine Kritik des politischen Urgesteins Schäuble am Kurs der Kanzlerin - so wie man sie auch in Euro-, Finanz- oder Flüchtlingskrise hören konnte? Man muss nicht, kann es aber so verstehen. Zahlreiche Politiker, vor allem aus CDU und FDP loben ihn für seine Worte. Politiker wie AfD-Fraktionschef Alexander Gauland erkennen in den Äußerungen sogar eine klare Kritik. "Schäuble hat (...) recht. Wenn die Behandlung einer Krankheit beginnt, mehr Schaden anzurichten als die Krankheit selbst, dann muss diese Behandlung beendet werden", lässt er wissen.
Nützt oder schadet der Konflikt der Union langfristig?
Von der Union ausgehend erstreckt sich das Lager der Öffnungs-Befürworter bis zur FDP. Die fordert geschlossen mit Nachdruck einen Strategiewechsel. Partei- und Fraktionschef Christian Lindner sagte vergangene Woche als Antwort auf die Regierungserklärung der Kanzlerin: "Die Zeit der Einmütigkeit ist vorbei." Er kritisierte außerdem, die Krise werde mit Methoden des Mittelalters bekämpft. Auch die AfD scheint nach einigen Wochen der Orientierungslosigkeit ihre Position gefunden zu haben: Sie befürwortet eine radikale Normalisierung des öffentlichen Lebens. Der Staat sei bei der Bekämpfung der Pandemie gar "weitgehend überflüssig", sagte Gauland vergangene Woche.
Auch auf der anderen Seite besteht weitgehende Konsistenz bei der Positionierung: SPD-Politiker mit Exekutivfunktion wie Finanzminister Olaf Scholz oder Arbeitsminister Hubertus Heil teilen in der Frage weitgehend die Position der Kanzlerin. Familienministerin Franziska Giffey argumentiert zwar, wenn Teile des wirtschaftlichen Lebens normalisiert werden, müsste das auch für Schulen und Kitas gelten. Ein wirkliches Vorpreschen in der Öffnungsdebatte ist das aber nicht. Auch bei den Grünen scheint es keine großen Meinungsverschiedenheiten in der Frage zu geben. Die Partei steht für einen vorsichtigen Kurs. Auch die Linke scheint mit einer Stimme zu sprechen und warnt vor Eile.
Im Vergleich zu vergangenen Krisen sieht es so aus, als verlaufe die Konfliktlinie erneut nur mitten durch die Union. Mit diesem Problem hatten die Schwesterparteien schon in Euro- und Finanz-, sowie in der Flüchtlingskrise zu kämpfen. Doch es gibt eben auch viele Punkte, die heute fundamental anders sind. Waren es damals Herausforderungen, die weitgehend durch politische Entscheidungen gelöst werden konnten, ist die Politik aktuell viel stärker auf das Mitwirken jedes einzelnen Bürgers angewiesen. Außerdem sind die persönlichen Zugeständnisse durch Verzicht auf Grundrechte deutlich größer. Bei der Frage, ob die Krise der Union langfristig nützt oder schadet, ist im Vergleich mit vergangenen Krisen keine klare Antwort möglich: Bei der Bundestagswahl 2013, also nach Finanz- und während der Eurokrise konnte die Union ordentlich zulegen. Die Flüchtlingskrise hat ihr jedoch massiv geschadet.
Quelle: ntv.de