Gräueltat, Gerechtigkeit, Strafe Wer zählt die Toten von Butscha?
04.04.2022, 19:48 Uhr
Die Gräueltaten in der Ukraine müssen dokumentiert werden.
(Foto: IMAGO/ZUMA Wire)
Das mutmaßliche Massaker von Butscha dokumentieren, damit weitere Kriegsverbrechen gestoppt und Putin und seine Regierung zur Rechenschaft gezogen werden: Diese Aufgabe ist so wichtig wie kompliziert. Hunderte Freiwillige helfen, selbst Experten sind schockiert - und fordern Hilfe vom Westen.
Die Kosten bewaffneter Konflikte zeigen sich nicht nur in der hohen Zahl der verlorenen Menschenleben, sondern auch in den schweren Gräueltaten, die dabei begangen werden. Ungefähr 340 Zivilisten sind nach ukrainischen Angaben im Kiewer Vorort Butscha von russischen Truppen getötet worden. Der Zeitung "Ukrajinska Prawda" zufolge wurden einige Leichen in Hinterhöfen vergraben, die Zahl könnte sich also noch erhöhen. Derzeit sind keine internationalen Experten im Kriegsgebiet, die die mutmaßlichen Kriegsverbrechen detailgetreu dokumentieren könnten.
D och die Dokumentation der Gräuel ist ein entscheidender Schritt in den Bemühungen, die Täter zur Rechenschaft zu ziehen, den Opfern und Überlebenden Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und der Nachwelt einen genauen Bericht der Taten zu hinterlassen.
Schon beim Angriff auf Mariupol war Russland vorgeworfen worden, Kriegsverbrechen als Methode der Kriegsführung einzusetzen. Auch für die Massaker von Butscha und anderen Vororten der Hauptstadt macht Kiew russische Truppen verantwortlich, die die Gebiete bis vor kurzem besetzt hatten. Moskau bestreitet das und behauptet, es läge eine "Inszenierung des Kiewer Regimes für westliche Medien" vor. Beide Seiten kündigen Ermittlungen an.
"Wussten vom russischen Terror gegen Zivilisten"
Umso wichtiger ist es, dass offizielle, unabhängige Stellen dokumentieren, was wirklich passiert ist. Im Kriegsgebiet ist dies jedoch meist nicht möglich, oder wenn, dann zu spät - so auch momentan in der Ukraine. Im Laufe der Zeit verblassen Erinnerungen, Informationen verschwinden. Oft dauert es Jahre - manchmal sogar Jahrzehnte -, bis Täter für die Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden, die sie während eines Konflikts begangen haben. Andere werden nie belangt. Doch die Sammlung und Aufbereitung von Beweisen für das mutmaßliche Kriegsverbrechen von Butscha ist zwingend erforderlich, damit diese irgendwann der Justiz zur Verfügung gestellt werden können. Um zu Gerechtigkeit, Wahrheit und Rechenschaft beizutragen, ist es deshalb nun nicht nur an örtlichen NGOs, sondern auch an der Zivilgesellschaft, die Dokumentation und Beweissammlung voranzutreiben.
Die laufenden Bemühungen in der Ukraine werden von Freiwilligen und Fachleuten gemeinsam getragen und organisiert. Oleksandra Matviichuk, eine in Kiew ansässige Menschenrechtsanwältin und Leiterin des Center for Civil Liberties in der Ukraine, war eine der ersten, die nach 2014 die Dokumentation von Kriegsverbrechen auf der Krim und im Osten der Ukraine organisierte. "Wir haben schon seit Wochen Informationen von Leuten vor Ort erhalten, die durch das Center for Civil Liberties für die Aufgabe der Dokumentation ausgebildet wurden und die es in Regionen wie Butscha geschafft hatten", sagt Matviichuk im Skype-Gespräch mit ntv.de. "Wir wussten also vom russischen Terror gegen Zivilisten, aber ich war von den ersten Videos und Bildern dann trotzdem schockiert."
Nach dem humanitären Völkerrecht liegen in Butscha ihrer Meinung nach ein Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor. "Wir haben sehr viele Beweise für die systematische Art und Weise sowie für das große Ausmaß dieser Verbrechen", sagt die Menschenrechtsanwältin.
Mehrere hundert Freiwillige habe das Center for Civil Liberties ausgebildet, unter anderem für das Dokumentieren von Kriegsverbrechen. "Wir haben dafür Menschen ohne juristischen Hintergrund zusammengebracht und deshalb die Methodik vereinfachen müssen", so Matviichuk. "Wir konzentrieren uns jetzt auf Aussagen von Opfern und Augenzeugen. Unser Ziel ist es, so viele dieser Berichte zu sammeln wie möglich." Später würden die Experten analysieren, was davon zulässig ist und was nicht, mit wem noch detailliertere Interviews zu führen sind, was für den Internationalen und was für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte passend ist.
Die Dokumentation der Gräueltaten vor Ort ist für die Freiwilligen nicht nur wichtig und gefährlich, sondern auch kompliziert. Weil die Erhebungs- und Aufbewahrungsmethoden vor Gericht Bestand haben müssen, raten die Vereinten Nationen zur Dokumentation nach dem Protokoll der University of Berkeley, in dem klare Regeln für Nachforschungen dargelegt sind. Das Protokoll deckt alles ab, von ethischen Grundsätzen über rechtliche Rahmenbedingungen bis hin zu den einzelnen Phasen des Untersuchungszyklus.
"Will keine Ausreden mehr hören"
Der Krieg in der Ukraine findet auch im Netz statt, was der Aufarbeitung von Kriegsverbrechen durchaus förderlich sein kann. Digitale Open Source Informationen, etwa in sozialen Medien öffentlich geteilte Bilder und Videos, die mit speziellen Software-Tools verifiziert werden können, dienen heutzutage bei der Dokumentation von Kriegsverbrechen als wichtige Quellen, gerade auch weil damit die (Des-)Informationen von Regierungen umgangen werden können. Im Berkeley-Protokoll heißt es: "Heute können Ermittler Daten über potenzielle Menschenrechtsverletzungen und andere schwere Verstöße des Völkerrechts […] aus einer Vielzahl öffentlich zugänglicher Satellitenbilder, Videos und Fotos, einschließlich des Materials, das von Smartphones ins Internet hochgeladen wird, und von Posts auf Plattformen sozialer Medien erfassen."
"Momentan ist die Frage der Dokumentation aber nicht die dringendste", sagt Oleksandra Matviichuk. "Ich bin erst ein Mensch und dann eine Menschenrechtsanwältin." Für sie seit es zwar wichtig, alle Beweise für künftige Prozesse zu dokumentieren. "Aber was ich als Mensch, als Menschenrechtsanwältin, tun kann, um zu verhindern, dass neue Kriegsverbrechen zu neuen Opfer führen, das ist die wichtigste Frage."
Matviichuk fordert daher internationale Hilfe und internationale Präsenz vor Ort, denn Krieg bringe in einem Land alles durcheinander und selbst vor dem Krieg gut funktionierende ukrainische Behörden könnten nicht mehr arbeiten wie früher. Momentan haben alle internationalen Organisationen ihre Mitarbeiter aus dem Kriegsgebiet in sicherere Gebiete in der Ukraine verlegt oder ganz aus dem Land abgezogen.
"Wir brauchen von den UN und diesen Organisationen aber nicht ihre Arbeit aus der Distanz aus Wien, Genf, Berlin oder Warschau", kritisiert Matviichuk. "Wir brauchen sie hier in den Hotspots, in den besetzten Gebieten, weil die Leute dort absolut unbeschützt mit den russischen Truppen allein gelassen werden." Sie wolle "keine Ausreden mehr hören". Die Organisationen sollten ihre Mandate vor Ort erfüllen, "nicht nur, um zu dokumentieren, sondern damit wir eine Chance haben, weitere russische Kriegsverbrechen zu stoppen".
Quelle: ntv.de