Große Wirkung mit großem Risiko Wie Streumunition der Ukraine militärisch nutzen kann
08.07.2023, 04:49 Uhr Artikel anhören
Bei der Streumunition aus den USA handelt es sich um Artilleriegranaten des Kalibers 155 mm - verschossen werden können diese etwa von der britischen Panzerhaubitze AS-90.
(Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
Die Entscheidung der USA, Streumunition an die Ukraine zu liefern, führt zu gemischten Reaktionen. Während die Ukraine sich für die Unterstützung bedankt, hagelt es von anderen Verbündeten Kritik. Für die Gegenoffensive jedoch könnten es gute Nachrichten sein.
Es sei ein "rechtzeitiges und dringend benötigtes Verteidigungshilfspaket der Vereinigten Staaten", kommentierte Präsident Wolodymyr Selenskyj die Zusage der USA über die Lieferung von Streumunition. Es werde der Ukraine sowohl bei der Verteidigung als auch bei der Befreiung ihres Landes helfen, sagte er während seines Besuchs in der Türkei, wo er sich mit Staatsoberhaupt Erdogan getroffen hatte.
Doch längst nicht alle Verbündeten begrüßen die Entscheidung. UN-Generalsekretär António Guterres hat die USA für ihre Pläne kritisiert, da er nicht wolle, "dass weiterhin Streumunition auf dem Schlachtfeld eingesetzt wird", sagte ein Sprecher. Auch Menschenrechtsorganisationen verurteilen die Entsendung der verbotenen Streumunition in die Ukraine.
"Unnötig und ein schrecklicher Fehler"
Und selbst Parteikollegen von US-Präsident Biden äußerten Kritik: Die Entscheidung sei "unnötig und ein schrecklicher Fehler", wird die demokratische Abgeordnete Betty McCollum vom britischen "Guardian" zitiert. "Diese Waffen sollten aus unseren Beständen entfernt und nicht in der Ukraine deponiert werden", so Collum. Die ebenfalls demokratische Abgeordnete Ilhan Omar sagte laut dem Bericht: "Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir uns nicht an Menschenrechtsverletzungen beteiligen dürfen, wenn die USA bei den internationalen Menschenrechten eine Führungsrolle übernehmen wollen."
Streumunition birgt das Risiko, für die Zivilbevölkerung eine Gefahr zu werden. Sie setzt Dutzende oder sogar Hunderte kleinere Sprengsätze frei, von denen viele nicht sofort explodieren, sondern auf dem Boden liegen bleiben und auch noch Jahrzehnte später Menschen töten oder verletzen. Sie sind deshalb in mehr als 120 Ländern verboten, darunter auch Deutschland. Das geht auf ein 2010 in Kraft getretenes internationales Abkommen zurück, das sogenannte Oslo-Übereinkommen. Allerdings sind weder die USA noch die Ukraine dem Abkommen beigetreten, ebenso wenig wie Russland.
Hohe Rate von Blindgängern
Dazu kommt, dass man Streumunition nur schwer steuern kann. Bereits im Zweiten Weltkrieg wurde Streumunition verwendet. Sie kann durch Flugzeuge, Raketen oder Artillerie verschossen werden - auch mit jenen Geschützen, welche die USA und andere westliche Nationen seit Beginn des Krieges in die Ukraine geschickt haben, einschließlich Haubitzen. Die Munition verteilt sich auf eine große Fläche und trifft dabei nicht immer nur den Feind.
Die Organisation Human Rights Watch veröffentlichte am Donnerstag neue Beweise, die darauf hindeuten, dass die ukrainischen Streitkräfte bereits Zivilisten durch den Einsatz von Streumunition verletzt haben. Gleichzeitig hätten russische Streitkräfte weitaus häufiger Streumunition eingesetzt, was ebenfalls zum Tod von Zivilisten geführt haben soll.
Die USA sind sich der Risiken bewusst. "Deshalb haben wir die Entscheidung so lange aufgeschoben, wie wir konnten", sagte Jake Sullivan, Bidens nationaler Sicherheitsberater, vor Reportern im Weißen Haus. Es solle zudem nur als Übergangslösung herhalten, bis wieder genug Artillerie-Munition zur Verfügung steht. Die Ukraine habe zudem schriftlich versichert, dass die Streumunition "sehr vorsichtig" eingesetzt werde, um "jedes Risiko für Zivilisten zu minimieren".
Artilleriegranaten gegen unterschiedliche Ziele
Bei der von den USA zugesagten Munition handelt es sich laut Mitteilung des US-Verteidigungsministeriums um Artilleriegranaten des Kalibers 155 mm, welche die Bezeichnung DPICM (Dual-Purpose Improved Conventional Munitions) tragen. Dabei handelt es sich um Streumunition, die zwei Varianten von Bomblets gegen zwei unterschiedliche Arten von Zielen enthält (daher "Dual-Purpose", auf Deutsch: "Doppelfunktion"). Die eine Art richtet sich gegen gepanzerte Fahrzeuge, die andere gegen weiche Ziele wie ungepanzerte Fahrzeuge und Soldaten.
Die beiden wichtigsten 155-mm-DPICM-Granaten im Bestand der US-Streitkräfte sind die M483 und die M864. Erstere enthält 88 Bomblets, Letztere nur 72 Bomblets, hat aber eine größere Reichweite. Unklar ist, welche Version für Kiew in Betracht gezogen wird. Zusätzlich listen die USA im neuesten Waffenpaket weitere 31 Haubitzen des Kalibers 155 mm auf, mit denen DPICM-Granaten verschossen werden können.
Laut Sullivan habe die von den USA gelieferte Streumunition eine Blindgängerquote von "nicht mehr als 2,5 Prozent". Russland hingegen würde Streumunition mit einer hohen Quote von 30 bis 40 Prozent einsetzen. Blindgänger werden sich aber dadurch nicht komplett vermeiden lassen, sagt Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr in München dem "Spiegel". Es sei bisher noch nicht technisch gelungen, Streumunition so zu konstruieren, dass sich nach Ablauf einer gewissen Zeit ausnahmslos sämtliche Submunitionen selbst unschädlich machen.
Streumunition bietet Ukraine zwei Vorteile
Militärexperten sind sich einig, dass Streumunition trotz der Risiken auch Vorteile für die Ukraine bringt. "Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Flächeneffekt solcher Munition die zahlenmäßige Unterlegenheit der ukrainischen Artillerie teilweise ausgleichen würde", so Wehrexperte Sauer. Befürworter der Lieferung argumentieren zudem, dass durch den massenhaften Einsatz von Minen von russischer Seite, die Ukraine ihr Land ohnehin von nicht explodierter Munition räumen müsse.
Die von den USA in Aussicht gestellte Streumunition könne "großflächig gegen Truppenkonzentrationen eingesetzt werden", sagt der österreichische Oberst Markus Reisner zu ntv.de. Damit sei die Ukraine in der Lage, das Heranführen von russischen Reserven zu verhindern oder diese gezielt zu bekämpfen. "Dies führt zu einer Isolierung möglicher geplanter Durchbruchstellen", so Reisner. Zudem sei es den Ukrainern mit Streumunition möglich, gezielt russische Stellungen an der Durchbruchstelle selbst zu bekämpfen.
Der Militärexperte Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik sieht für den Einsatz von Streumunition zwei Hauptgründe: Zum einen könne die Ukraine Streumunition gegen "eingegrabene Truppenteile" einsetzen, "die sich sehr stark befestigt haben". Zum anderen lasse sich damit die Infrastruktur des Gegners treffen. "Das können zum Beispiel Munitionsdepots, Flughäfen oder Verkehrsknotenpunkte sein", sagte er dem ZDF. Schon mit einzelnen Sprengsätzen könne eine entsprechend große Wirkung erzielt werden, die die gesamte Infrastruktur des Gegners "signifikant schwächt".
Laut Einschätzung des Politologen Thomas Jäger ist die Lieferung von Streumunition an die ukrainischen Streitkräfte "ein militärisches Erfordernis". Der Ukraine gehe die Munition aus, sie brauche mehr Feuerkraft, um in ihrer Gegenoffensive vorwärtszukommen, sagte Jäger ntv. Der Westen jedoch sei derzeit nicht in der Lage, mit seinen Lieferungen regulärer Munition den ukrainischen Bedarf zu decken. Entsprechend sieht der Experte die Streumunition als "Ausweg für den Übergang". Die Alternative wäre demnach, dass die Ukraine keine Geländegewinne mehr machen könnte.
Quelle: ntv.de, vmi