Politik

Umstrittene Umfragen Wie (un)sicher ist Erdogans Triumph?

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Wahltag. Etliche Umfragen sind in den vergangenen Wochen erschienen. Doch wie es mit Präsident Erdogan weitergeht, ist derzeit offen. Die Demoskopie in der Türkei hat einen schlechten Ruf. Und derzeit arbeitet sie unter erschwerten Bedingungen.

Die Frau mit der Aktentasche in der Hand stutzt. Sie lächelt verunsichert. Während sie sich abwendet, sagt sie: "Darauf antworte ich nicht." Dasselbe bei der nächsten Passantin. Stutzen, verlegenes Lächeln. "Fragt bitte jemand anderen." Vor einem Restaurant steht ein Mann. Er antwortet zwar auf die Frage, wen er am Sonntag wählt. "AKP", sagt er. Aber er wirkt so nervös und unsicher, dass Zweifel an seiner Ehrlichkeit aufkommen.

Murat Gezici: "Die Menschen haben Angst."

Murat Gezici: "Die Menschen haben Angst."

(Foto: Issio Ehrich)

Für Journalisten sind Umfragen auf offener Straße in der Türkei in den vergangenen Jahren immer schwieriger geworden. Und auch Meinungsforschern fällt es immer schwerer, an verlässliche Informationen zu kommen. "Die Polarisierung in der Türkei hat dazu geführt, dass Leute sich nicht mehr trauen, mit unseren Interviewern zu sprechen", sagt Murat Gezici, Chef des Instituts Gezici Arastirma. Seine Mitarbeiter sollen pro Tag 18 Umfrageergebnisse mit ins Büro bringen. Früher mussten sie dafür an 45 Türen klopfen. Heute sind es laut dem Demoskopen 120 bis 140 Türen. Vertreter einiger anderer Institute berichten von noch schlechteren Quoten. "Die Menschen haben Angst", sagt Gezici.

Der Aufwand, den der Meinungsforscher betreibt, um trotzdem an verlässliche Ergebnisse zu kommen, ist immens. Er lässt Interviewte neben der Wahlfrage auch Fragen zu verschiedenen politischen Inhalten beantworten - unter anderem, um auf Widersprüche zu stoßen. In diesem Fall, so Gezici, fließen die Antworten nicht in Umfragen ein.

In der Türkei läuft schon seit Wochen eine Debatte darüber, wie verlässlich die Umfragen sind. Und das nicht nur, weil unter der Regentschaft von Recep Tayyip Erdogan die Angst in der Gesellschaft gewachsen ist. "Meinungsumfragen sind ein grundsätzliches Problem in der Türkei", sagt Kristian Brakel, Leiter des Istanbul-Büros der Heinrich-Böll-Stiftung. "Institute sind nicht unabhängig. Sie produzieren oft Auftragsstudien oder fühlen sich bestimmten Parteien zugehörig." Viele Institute veröffentlichen ihre Studien wohl auch deshalb völlig intransparent. Mal fehlt die Größe der Stichprobe, oft eine Erläuterung der genauen Fragestellung. "Die Methodik ist schwer einsehbar", sagt Brakel. Und der Türkei-Experte nimmt bei seiner Bewertung kein Institut aus. "Einige sind ein bisschen schlimmer als andere, aber ich hatte schon seltsamste Ergebnisse von fast allen Instituten."

Feige Demoskopen

In deutschen Medien, auch bei n-tv.de, werden derzeit vor allem Umfragen der Institute Gezici, Remses, Mediar, Sonar und Piar ausgewertet. Sie zeichnen ein relativ einheitliches Bild: Erdogan muss demnach ernsthaft um seine Macht fürchten. Er muss im Kampf um das Präsidentenamt in die Stichwahl, und seine AKP verliert trotz einer Wahlallianz mit den Ultranationalisten der MHP die absolute Mehrheit im Parlament. Einige dieser Umfragen sind allerdings schon Wochen alt. Und auch diesen Instituten wird eine gewisse Nähe zu einzelnen politischen Lagern nachgesagt. Im Falle Gezicis etwa zur kemalistisch-sozialdemokratischen CHP.

In der Türkei erschien bis vor einigen Wochen eine ganze Flut an Umfragen, die ein völlig anderes Bild zeichneten. Unternehmen wie das als regierungsnah geltende MAK Arastirma sagen Erdogan einen Triumph im ersten Durchgang der Präsidentschaftswahl voraus.

Murat Gezici räumt ein, dass die Meinungsforschung in der Türkei in einer Krise steckt. Er wirft anderen Demoskopen Feigheit vor. Und das nicht nur, weil sie aus Angst bestimmte Umfrageergebnisse produzieren, sondern auch, weil sie es kurz vor der Wahl gar nicht mehr wagen, Ergebnisse zu präsentieren - obwohl sie weiterhin Daten erheben. Sie fürchten laut Gezici Repressalien des jeweiligen Wahlsiegers, falls sie dessen Erfolg nicht vorhergesagt haben.

Gezici lag mit seinen Umfragen vor dem Verfassungsreferendum und den vergangenen Parlamentswahlen sehr nah am tatsächlichen Ergebnis. Das gibt Murat Gezici eine gewisse Zuversicht. Mit den ersten echten Wahlzwsichenergebnissen ist aber erst heute Abend zu rechnen. Dann wird sich auch zeigen, ob eine naheliegende, aber völlig spekulative Deutung der Verschwiegenheit vieler Befragter sich bewahrheitet: Dass vor allem Erdogan-Gegner Angst haben, sich zu äußern. Wäre dies der Fall, müsste der Präsident wirklich um seine politische Zukunft bangen.

Quelle: ntv.de

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