
Niemand plant eine Zwangsimpfung für Kinder, aber nichts kann man so schön kontern wie eine ausgedachte Behauptung.
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Deutschland sorgt sich mehr um Impfskeptiker als um die Corona-Pandemie. Verführer und Lügner haben es da leicht - die Leichensäcke schleppen andere.
Man muss die ersten vier Jahre einer Pandemie wohl als Grundstudium betrachten, um mit intakten Nerven durchzukommen: Wir wiederholen schon wieder die Grundlagen. Schon wieder verblüffte Gesichter angesichts der Dynamik, mit der uns die vierte Welle einholt. Schon wieder Quengelei wie von Gören auf der Rückbank nach einer mehrstündigen Autofahrt, wann es denn endlich vorbei ist. Schon wieder Trotz und Wut - und vor allem: Schon wieder Verführer ohne jede Skrupel.
Kaum jemand hat diese Lust an der Verführung so verkörpert wie Sahra Wagenknecht in der Sendung "Anne Will". Impfen sei keine Frage der Solidarität, behauptet die Linkenpolitikerin da, "auch wer geimpft ist, kann andere anstecken". Eine tolldreiste Manipulation. Wäre Wagenknecht einfach nur zu dumm, könnte man den Satz wegseufzen. Wäre ich geduldig wie der neben ihr sitzende SPD-Gesundheitsfachmann Karl Lauterbach, könnte ich ruhig bleiben. Beides ist nicht der Fall.
Natürlich weiß Wagenknecht, dass sich die Ansteckungswahrscheinlichkeit nicht beschreiben lässt wie die Frage, ob in der Küche das Licht an ist. Wir hatten derlei schon oft: Ja, auch die Maske schützt nicht vollständig. Ja, auch Geimpfte können krank werden. Ja, eine Corona-Infektion kann harmlos verlaufen. Und ja, auch Geimpfte können andere anstecken - es ist nur viel unwahrscheinlicher. Anderes hat niemand gesagt, aber nichts kann man so schön kontern wie eine ausgedachte Behauptung.
Verführung der Risikoinkompetenten
Das Triumphgeheul der Impfskeptiker bei jedem Durchbruch ignoriert, dass mehr Menschen geimpft sind und deshalb die Zahl der Durchbrüche zwingend steigt. Das ist einfachste Mathematik. Es herrscht das Gesetz der großen Zahl. Kleinste Veränderungen der Wahrscheinlichkeit wirken sich im hochtourig laufenden Rennmotor einer Pandemie gewaltig aus.
Wie schlecht der Mensch kognitiv auf so vergleichsweise schlichte Zusammenhänge unserer modernen Welt vorbereitet ist, haben viele Autoren in den letzten Jahrzehnten herausgearbeitet. Kognitionspsychologen wie jüngst erst wieder Steven Pinker ("Rationality") oder im deutschen Sprachraum Gerd Gigerenzer ("Risiko") haben die erschreckende Risikoinkompetenz ungeschulter Bürger in ihren Büchern ausgeleuchtet. Ökonomen wie Daniel Kahneman und Amos Tversky haben vor zwanzig Jahren die menschliche Rationalität in den üblichen wirtschaftlichen Modellen infrage gestellt. Sogar die Rechtswissenschaft hinterfragt mittlerweile die Objektivität richterlicher Entscheidungen.
Richtig ist aber auch: Kognitive Verzerrungen zu erkennen, beendet nicht deren Effekte. Die Vorstellung, weite Teile der Bevölkerung könnten irgendwann mit exponentiellen Entwicklungen umgehen, ist ein Phantasma. Es würde schon helfen, wenn die Risikoinkompetenten nicht auch noch verführt würden.
Täuschen macht Spaß!
Womit wir wieder bei Wagenknecht wären. Sie und ihresgleichen kennen diese Zusammenhänge, sie sind nicht risikoinkompetent - was nur einen Schluss zulässt: Sie täuschen wirklich gern andere Menschen. Wagenknecht unterscheidet sich darin nicht von den menschenverachtenden Gestalten, die täglich irgendwelche Lügen im Internet freisetzen, um Chaos und Tod zu verbreiten. Warum macht man das eigentlich?
Andere Menschen in Massen zu verführen, ist eine besondere Form der Biografievergoldung. Es ist sinnstiftend, einmal König zu sein. Sagen, wo es lang geht, Zuspruch finden, ob nun als Politiker oder schwurbelnder Ökonom auf Twitter mit vielen treuen Followern. Es macht schlicht Spaß zu führen - und sei es an der Nase herum.
Dieses Vergnügen bereiten sich nicht nur Politiker ganz links und ganz rechts und Lügner im Netz. Auch manche Medien entdecken den Flirt mit der Pandemieskepsis für sich, lassen geschickt manches weg, fügen hier und da eine Provokation hinzu. "Weg mit der Maske, der Umwelt zuliebe!" tönt die "Bild"-Zeitung, natürlich mit einem, haha, "Augenzwinkern". Man badet im Applaus der Skeptiker und zählt die Neu-Abonnenten.
Niemand wird so umgarnt wie die Impfskeptiker
Eine Umkehr - undenkbar. An der Spitze einer Bewegung ist vor allem eines wichtig: dort zu bleiben. Die Realität hat keine Chance. Verschwörungsidioten konnten gefahrlos in Telegramgruppen verkünden, dass Ende September aber nun wirklich alle Geimpften tot umfallen. Anfang Oktober verzapften sie irgendeinen anderen Mist - die Impfskeptiker sind eine erstaunlich unskeptische Herde.
Alles andere müsste ja bedeuten, den eigenen Irrweg als solchen einzuräumen. "Ich war zu dumm, um mathematische Zusammenhänge und empirische Ambivalenzen einer Pandemie zu verarbeiten und habe mich deshalb irgendwelchen Scharlatanen an den Hals geworfen, ich bitte um Verzeihung und möchte einmal Biontech links bitte und sehr gern einen Termin für die Zweit- und Drittimpfung!" Nein, das passt nicht zur eigenen Biografievergoldung, nämlich der Geschichte, man habe den Lug und Betrug von "denen da oben" von Anfang an durchblickt.
Die Verführer stört niemand bei ihrer Verrichtung. Keine Bevölkerungsgruppe wird derzeit so umpudert und umgarnt wie die Impfskeptiker: Pädagogik statt Piks, nur nicht reizen! Obwohl viele von ihnen sich aus Gemeinwesen und Rationalität mit erhobenem Mittelfinger verabschiedet haben, aus Trotz oder geistigem Unvermögen, halten sie die matte Restbevölkerung in Geiselhaft.
Zu Hause in der Wutrepublik
Wir sprechen über Impfskeptiker wie über einen reizbaren Kidnapper, der im Unterhemd am Küchentisch sitzt, mit einem Revolver hantiert und bei den kleinsten Widerworten auszurasten droht. Wir behausen eine Wutrepublik, in der eine Minderheit von Trotzköpfen sich nicht um Todesopfer und Freiheitsverluste der anderen schert. Weil sich der Staat - auch angesichts einer Bundestagswahl - nicht einmal zu einer Impfpflicht für Pflegekräfte durchringen konnte, tragen andere jetzt die Leichensäcke aus den Heimen.
Nicht alle Impfskeptiker sind Wutbürger oder Esoteriker. Viele sind schlicht verängstigt, träge oder uninformiert. Manche verstehen schlicht nicht, dass ihre Entscheidung eben keine individuelle ist - und dank prominenter Verführer wie Wagenknecht fühlen sie sich bestätigt. Keine Kampagne wird daran noch etwas ändern.
Zwang oder Druck wiederum sind nicht zu erwarten: Die geschäftsführende Bundesregierung ist schon wieder verblüfft von Karona oder wie das heißt; sie setzt bizarre, wenn auch juristisch richtige Signale wie das "Ende der epidemischen Lage". Sie ruft den Kindern auf der Rückbank zu "wir sind gleich da!", obwohl das Navi nicht einmal die Fahrzeit berechnen kann.
Freiheit erkämpfen durch den Pflicht-Piks
Und die neue Regierung? Die FDP verdankt ihre nahende Regierungsbeteiligung auch einem konsequenten Freiheitsbekenntnis in der Pandemie. Daran ist nichts falsch, aber Teile dieses Zuspruchs werden in sich zusammenfallen, wenn man nun mit Maßnahmen wie einer Impfpflicht anrückt. 2G auszurollen und Stubenarrest für die Ungeimpften zu verhängen, ist zum Glück Länderangelegenheit - wer wagt es? Wer zaudert? Es ist wie immer: chaotisch.
Freiheit muss man erkämpfen, manchmal durch zwei bis drei Pflicht-Pikse in den Oberarm. Das erfordert Pragmatismus und Entschlusskraft. Es wundert deshalb kein bisschen, dass der Staat Israel sich bei der Pandemiebewältigung so gut schlägt. Kurz nach seiner Staatswerdung musste dieses Land sich gegen seine Nachbarn verteidigen, immer wieder, das prägt. Einschneidende und umstrittene Maßnahmen, ob nun Datenverarbeitung in einer Pandemie, kilometerlange Betonmauern gegen Scharfschützen oder eine mehr als zweijährige Wehrpflicht haben in Israel das Überleben gesichert. Jetzt entzieht das Land seinen Bürgern den "grünen Pass", wenn deren letzte Impfung mehr als sechs Monate zurückliegt. Motto: Wer zaudert, verliert.
Wir werden Pragmatismus und Realismus schon noch lernen. Wir werden uns von der Impfskeptiker-Pädagogik ab- und gesetzlichen Maßnahmen zuwenden. Vielleicht nicht im Grundstudium Covid-19, vermutlich auch nicht bei der fünften oder sechsten Welle. Aber bei der nächsten Pandemie, da sind wir dann bereit. Ganz bestimmt.
Quelle: ntv.de