Der Thron wackelt gewaltig Wird Putin Lukaschenko helfen?
17.08.2020, 13:21 Uhr
Angesichts der Proteste ist unklar, wie Lukaschenko sich im Amt halten soll.
(Foto: imago images/ITAR-TASS)
Nach dem größten Protest in der belarussischen Geschichte wird deutlich: Der Autokrat Alexander Lukaschenko hat keine Mehrheit mehr. Die Opposition will ihn durch einen Streik stürzen. Russlands Antwort bleibt unberechenbar.
Am Sonntag erlebte der belarussische Präsident Alexander Lukaschenko einen weiteren Rückschlag. Im Laufe der Proteste gegen den fragwürdigen Sieg des Autokraten, die seit der Wahl am 9. August anhalten, hat sich die Opposition immer gefragt, wo die angeblichen 80 Prozent eigentlich sind, die für Lukaschenko gestimmt haben sollen. Auf den Straßen waren sie jedenfalls nicht zu sehen.
Als Antwort darauf organisierte Lukaschenko am Sonntag eine eigene Demonstration am Minsker Unabhängigkeitsplatz, zu der optimistischen Einschätzungen zufolge maximal 10.000 Menschen kamen. Und das, obwohl die Teilnehmer offensichtlich mit organisierten Bussen in die Hauptstadt gefahren wurden.
Eine gute Nachricht gab es für Lukaschenko trotzdem. Denn es handelte sich tatsächlich überwiegend um seine Anhänger und nicht nur um bezahlte Staatsbeamten, die keine andere Wahl hätten, als für den Staatschef zu demonstrieren. Und trotzdem scheint seit gestern die Frage nach der demokratischen Legitimation für Lukaschenko endgültig beantwortet zu sein. Denn parallel zu der Kundgebung für den Präsidenten versammelten sich allein in Minsk deutlich mehr als 100.000 zu einer friedlichen Gegenaktion, die wieder keinen klaren Anführer hatte. Lediglich Marija Kolesnikowa, das einzig in Belarus verbliebene Mitglied des vereinten Wahlstabes um Lukaschenkos Herausforderin Swetlana Tichanowskaja, hielt eine kleine Rede.
Bemerkenswert war, dass trotz der Größe der Menschenmenge, die von der unabhängigen Nachrichtenseite TUT.by sogar auf mindestens 220.000 geschätzt wurde und zweifellos für den größten Protest in der Geschichte des Belarus sorgte, der Spaziergang vom Siegespark zum Regierungsgebäude am Unabhängigkeitsplatz ohne jegliche Eskalation abgelaufen ist. Ähnliche Aktionen fanden zahlreich in anderen größeren Städten statt. Damit wurde deutlich: Spätestens jetzt hat Lukaschenko keine Mehrheit im Land. Für ihn wird es langsam zur Herausforderung, noch länger im Amt zu bleiben.
Streiks setzen Lukaschenko unter Druck
Nun ist die Frage, wie sich die belarussische Opposition den Machtwechsel in Minsk vorstellt. Da scheinen die mächtigen Kanäle im Messengerdienst Telegram wie Nexta, die das eigentliche Sagen in Sachen Strategie der Proteste haben, vor allem auf einen landesweiten Generalstreik ab Montag zu setzen. Bereits am Donnerstag und Freitag haben sich Proteste und Streiks bei den Staatsbetrieben verstärkt. Ob es tatsächlich gleich zu einem landesweiten Streik kommt, ist unwahrscheinlich. Doch die ersten Anzeichen sind für Lukaschenko wieder negativ. So soll man tatsächlich etwa bei Belaruskali, einem der größten Kaliproduzenten der Welt und einem der wichtigsten Exporteure in Belarus, streiken.
Die große Unsicherheit für die Opposition bleibt aber letztlich, wie viele Mitarbeiter in diesem oder anderen Unternehmen tatsächlich zum Streiken bereit sind. Sollten die größeren Betriebe bald stillstehen, wird Lukaschenko die Lage kaum mehr unter Kontrolle haben. Denn einen wirtschaftlichen Spielraum hat er nicht. Und auch die übliche Unterstützung der Staatspropaganda ist dem 65-Jährigen nicht mehr so sicher - auch beim belarussischen Staatsfernsehen wird gestreikt. Es wäre aber sowieso nicht so leicht, Tausende von Arbeitern, wie von Lukaschenko üblich, als "bezahlte Menschenmasse" abzustempeln.
Anders als bei der Maidan-Revolution in Kiew vor sechs Jahren hat die Opposition keine militante Fraktion, die militärisch auf Augenhöhe mit den vergleichbar starken belarussischen Sicherheitsbehörden stünde. Sollte die Streikstrategie nicht aufgehen, dürften die Lukaschenko-Gegner darauf hoffen, dass ein Teil des Sicherheitsapparats die Seiten wechselt. Das ist nicht ganz ausgeschlossen, konkrete Anzeichen gibt es dafür aber nicht. Doch selbst wenn das nicht passiert, ist es derzeit unwahrscheinlich, dass die Proteste in der näheren Zukunft irgendwann kleiner werden. So müsste Lukaschenko bald mindestens Verhandlungen mit den Vertretern der Opposition führen, die er derzeit kategorisch ausschließt. Die Demonstrationen gewaltsam ein für alle Mal aufzulösen, ist schlicht nicht mehr möglich.
Hilfe aus Moskau?
Stattdessen telefonierte der belarussische Präsident sowohl am Samstag als auch am Sonntag mit seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin. Bei einer Gefahr von außen würde Russland, gemäß dem Statut der Organisation des Vertrages über kollektive Sicherheit, eines vom Kreml angeführten Militärbündnisses, Minsk helfen, hieß es. Unbestätigten Berichten zufolge bewegten sich Teile der russischen Nationalgarde Rosgwardija, die dem Innenministerium unterstellt sind, bereits gestern Abend aus St. Petersburg und Moskau ohne Kennzeichen Richtung Belarus. Beachtenswert wäre dabei, dass die Rosgwardija eigentlich nur für den inneren Einsatz vorgesehen ist.
Heißt es, dass Putin dadurch der erschöpften belarussischen Polizei helfen möchte - oder, sollten sich die Informationen bestätigen, wäre die Rosgwardija eher für die Bewachung von Lukaschenko als eine Art Sicherheitsgarantie da? Vieles ist möglich, ein größerer russischer Einsatz in Belarus bleibt dennoch Stand jetzt unwahrscheinlich. Von einer "äußeren Gefahr" kann in Minsk und Umgebung bisher keine Rede sein. Bisher weigert sich der Protest, sich geopolitisch zu orientieren oder klar gegen Russland zu stellen. Man will definitiv die Unabhängigkeit des Landes behalten, die Alternativlosigkeit der wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland ist der Opposition jedoch bewusst.
Dazu kommt, dass Lukaschenko sich lange nicht entscheiden konnte, woher eigentlich die externe Gefahr kommt, aus Russland oder aus der EU. Mit der Rückgabe der in Belarus festgenommenen vermeintlichen Söldner der russischen privaten Sicherheitsfirma Wagner hat sich der 65-Jährige zwar entschieden. Wirklich glaubwürdig war das allerdings weder für den Kreml noch für das eigene Volk. Jedenfalls bringt das mögliche Eingreifen Russlands auf der Seite von Lukaschenko die Gefahr mit sich, dass sich die Mehrheit der Belarussen plötzlich gegen Moskau stellt. Strategisch könnte dies dazu führen, nach der Ukraine einen weiteren Partner in der engen Nachbarschaft zu verlieren.
Deswegen wäre es für Russland zuverlässiger und klüger, sich als Vermittler bei den potenziellen Verhandlungen zwischen Lukaschenko und der Opposition zu engagieren, sollten diese letztlich stattfinden. Dann könnte Moskau die Lage unter Kontrolle behalten und die Rolle der EU in Minsk verkleinern. Für Lukaschenko selbst gibt es dagegen kein einziges Szenario, das wirklich gut wäre. Für ihn geht es lediglich darum, zwischenzeitlich zu überleben. Das große Spiel wird er wohl nicht mehr drehen können.
Quelle: ntv.de