Politik

Proteste in Belarus Lukaschenkos Feind ist unsichtbar

An dem Ort in Minsk, wo ein Demonstrant am Montag ums Leben kam, legen Menschen Blumen nieder.

An dem Ort in Minsk, wo ein Demonstrant am Montag ums Leben kam, legen Menschen Blumen nieder.

(Foto: REUTERS)

In Belarus gehen die Proteste gegen den fragwürdigen Wahlsieg Alexander Lukaschenkos weiter. Einen klaren Anführer oder einen zentralen Ort haben sie nicht, die Opposition wird durch Telegram-Kanäle mobilisiert.

Noch vor wenigen Monaten hatte Swetlana Tichanowskaja, Englischlehrerin und Herausforderin des belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko bei der Wahl am 9. August, nichts mit Politik zu nun. Nun musste Tichanowskaja, die ihre Kinder bereits in die EU gebracht hat und deren Mann in der U-Haft sitzt, selbst das Land verlassen. "Ich habe diese Entscheidung persönlich getroffen. Passt bitte auf euch auf. Kein Menschenleben ist das wert, was jetzt passiert", sagte die 42-Jährige ihren Anhängern in einem Video. In einem anderen Video, in dem sie von einem Zettel abliest und dabei nicht mal in die Kamera guckt, ruft sie die Menschen dazu auf, an den laufenden Protesten nicht teilzunehmen und sich nicht mit der Polizei anzulegen.

Dass Tichanowskaja dieses Statement freiwillig abgab, ist so gut wie ausgeschlossen. Laut ihrer Verbündeten Olga Kowalkowa hat die ungewollte Oppositionsführerin das Land verlassen, weil im Gegenzug ihre festgenommene Wahlkampfchefin freigelassen wurde. Am Montag war Tichanowskaja mehrere Stunden im Gebäude der belarussischen Wahlkommission festgehalten worden, wo sie gegen das Wahlergebnis klagen wollte. Dort wurde offenbar auch das fragwürdige zweite Video mit Tichanowskaja aufgezeichnet.

Aus dem Frauentrio, das bei dieser Wahl gemeinsam gegen den seit 1994 regierenden Lukaschenko kämpfte, ist nun lediglich Marija Kolesnikowa immer noch in Minsk. Die Wahlkampfmanagerin des einstigen Hauptkonkurrenten von Lukaschenko, des Bankiers Wiktor Babariko, galt ohnehin als treibende Kraft im gemeinsamen Wahlkampf.

Auf die Proteste gegen den verkündeten Wahlsieg Lukaschenkos mit angeblichen 80 Prozent hat dies zunächst nur minimale Auswirkungen. Denn auf diese hatten Tichanowskaja und Kolesnikowa ohnehin kaum Einfluss. Trotz der Abschaltung des Internets und massiver Probleme mit dem Mobilfunknetz schaffen es die Demonstranten, über den Messengerdienst Telegram zu kommunizieren. Telegram-Kanäle wie Nexta, dem inzwischen eine Million Menschen folgen, informieren über das Geschehen, veröffentlichen Aufrufe und gelten als informelle Anführer der Opposition. Für den heutigen Abend hat Nexta folgende Strategie ausgegeben: "Die Sicherheitsbehörden werden bereit sein, die Menschen an bestimmten Orten zu treffen. Das ist ihre Schwäche. Trefft euch in kleinen Gruppen bis zu 20 Personen. Steht nicht an einem bestimmten Ort. Bewegt euch in diesen kleineren Gruppen Richtung Zentrum, vermeidet aber die zentralen Plätze. Besetzt alle angrenzenden Straßen und blockiert die Zufahrten."

Aufruf zum Generalstreik wurde kaum befolgt

Dass ein so dezentraler Protest den gut vorbereiteten Sicherheitsbehörden Probleme schaffen kann, zeigte sich während der Aktionen am Montag. In der Hauptstadt Minsk konnte die Polizei erst am Dienstagmorgen zwischen drei und vier Uhr die Lage unter Kontrolle bringen. Weil die Behörden den ursprünglichen Treffpunkt der Opposition komplett abriegelten, entschieden die Demonstranten, gleich an vielen Orten der Stadt Widerstand zu leisten. Gleichzeitig übernahmen Autofahrer die übliche Taktik der Polizei und blockierten etliche Straßen, was die Mobilität der Staatskräfte massiv einschränkte. Viele Demonstranten antworteten nicht mehr friedlich auf die Polizeigewalt. Auf den Einsatz von Schlagstöcken, Gummigeschossen und Granaten wurde in einzelnen Fällen offenbar mit Molotowcocktails reagiert.

Es ist zwar aufgrund der schwierigen Informationslage unklar, wie viele Menschen an den Protesten am Montag teilnahmen und wie groß diese Zahl im Vergleich zu den Demonstrationen am Sonntag nach der Verkündung der offiziellen Hochrechnung ist. Klar scheint jedoch, dass die Proteste am Montag heftiger waren und der Polizei mehr Probleme bereiteten. Auch in den Regionen, wo die Demonstranten am Sonntag oft in deutlicher Überzahl waren, ging es mit dem Protest weiter. Das belarussische Innenministerium meldete für den Montag mehr als 2000 Festnahmen sowie den ersten offiziellen Toten.

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Generell bleibt die Lage unvorhersehbar. Eigentlich sollten die Sicherheitsbehörden bei einem Protest ohne konkreten Anführer sowie vernünftige Organisation klar im Vorteil sein. Nach wie vor scheint es wahrscheinlicher, dass Lukaschenko die Demonstrationen irgendwann komplett unterdrücken kann. Zumal der Ausruf der Opposition zu einem Generalstreik am Dienstag nur mit einem geringen Erfolg in einzelnen Betrieben endete. Die Schwierigkeit für den Autokraten ist jedoch, dass er durch die Abschaltung des Internet die Menschen geradezu in die Telegram-Kanäle getrieben hat, die nun quasi zur einzigen Informationsquelle wurden und sich im Gegensatz zu anderen Plattformen kaum sperren lassen. Deren Betreiber, die meist im Ausland sitzen, haben einen enormen Einfluss auf die Menschenmassen vor Ort.

Und so könnten sich die Proteste für Lukaschenko durchaus zum Kampf gegen einen unsichtbaren Feind entwickeln, der an mehreren Orten gleichzeitig auftaucht. Wenn die Opposition es schafft, die Sicherheitsbehörden häufiger unter ähnlichen Druck zu setzen wie am Montag, könnten diese auch in ihre Grenzen stoßen. Sollte der ewige Präsident dennoch den Kampf gegen die Demonstranten gewinnen, wäre das für den 65-Jährigen trotzdem nur ein taktischer Sieg. Die Repressionen haben in Belarus in diesen Tagen selbst für dortige Verhältnisse einen neuen Maßstab erreicht und sind letztlich für alle sichtbar. Vermutlich kann Lukaschenko im Falle des Erfolges eine Weile lang die Atmosphäre der Angst im Land aufrechterhalten. Andere Probleme wie die laufende Wirtschaftskrise aufgrund der verschlechterten Beziehungen mit Russland werden allerdings nicht verschwinden. Der belarussische Präsident muss tatsächlich mehr um seine Zukunft bangen als je zuvor.

Quelle: ntv.de

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