
Der Bundespräsident hält eine Rede an die Nation. Das Gesagte ist zwar nicht falsch. Doch die große Chance, eine mitreißende Botschaft zu vermitteln, verpasst Steinmeier kolossal.
Wie zu Angela Merkels Zeiten werden die Deutschen auch unter Olaf Scholz aus dem Kanzleramt mit großen Reden massiv unterversorgt. Das öffnet die Tür für andere, den Bundespräsidenten zum Beispiel. Frank-Walter Steinmeier hat heute mit viel Anlauf und Begleitmusik versucht, durch diese offene Tür hindurchzugehen. Es sollte eine große, erklärende, aufrüttelnde, wegweisende und gefühlsstarke Rede werde. Und vermutlich war genau das das Problem.
Viel sprach Steinmeier vom neuen "Gegenwind", dem Land und Leute sich infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine nun stellen müssten. Für seine Rede hingegen wird der Bundespräsident nicht viel Gegenwind bekommen. Ein gutes Zeichen ist das nicht unbedingt: Es fehlte der kraftvolle Kern, der mitreißt. Es fehlte nicht die Ehrlichkeit, wohl aber die Klarheit und das Konkrete, was denn nun das Wichtigste ist für die nächsten Jahre in Deutschland und was den verunsicherten Leuten Mut und Ziel geben soll. Eine neue Wehrhaftigkeit in allen Bereichen? Ein neuer Zusammenhalt zwischen den Gruppen und Generationen und Ost- und Westdeutschland? Oder doch eher der Kampf gegen den Klimawandel, ohne den "alles nichts" sei, wie der Bundespräsident sagte?
Das wird leider nicht reichen
Was also nimmt ein ganz normaler Mensch mit, der sorgenvoll in die Zukunft blickt und nicht absehen kann, was sich gerade alles ändert: Dass es so ernst wird, wie lange nicht, die Sache zugleich keineswegs hoffnungslos ist und jeder seinen Teil beizutragen hat. Das wird leider nicht reichen, damit die Leute sagen: Jetzt sehe ich klarer. Jetzt schöpfe ich neuen Mut. Oder auch nur: Jetzt verstehe ich, warum die Regierung so kostspielig gegen Russland Front macht.
Die stärksten Momente hatte Frank-Walter Steinmeier, als er Russlands Angriff in drastischer Schärfe verurteilte und als das einordnete, was er ist: das "Böse" und das Ende vieler deutscher Gewissheiten und Bequemlichkeiten. Diesen Befund kann man gar nicht oft genug wiederholen, denn so richtig herumgesprochen hat es sich noch nicht: Der große Umbruch ist nach dem kommenden Winter nicht vorbei.
Das alte Leben von vor dem Krieg gibt es für lange Zeit nicht zurück. Das kann der Staat auch mit noch so viel Schulden nicht leisten, und darum sollten die Menschen auch nicht jedes Mal neu danach verlangen. Die sprachliche Anleihe, die Steinmeier an diesem Punkt bei einer historischen Rede John F. Kennedys machte, war arg bemüht. Aber seine Ehrlichkeit von Beschränkung und Verzicht ehren den Bundespräsidenten, auch wenn er seinen Anspruch an eine große und bleibende Rede nicht eingelöst hat.
Quelle: ntv.de