Hilft nur noch Zwang? Nein! Die Impfpflicht ist nicht umsetzbar und unmoralisch
19.11.2021, 16:04 Uhr
Wollen wir Impfskeptikern wirklich mit Zwangsmaßnahmen begegnen?
(Foto: picture alliance/dpa)
Die Stimmung ist gekippt. Anders als noch im August spricht sich mittlerweile eine Mehrheit der Bundesbürger für eine allgemeine Impfpflicht aus. Das ist angesichts der explodierenden Infektionszahlen und volllaufenden Intensivstationen nachvollziehbar. Aber es ist vor allem ein Armutszeugnis für uns alle.
Man muss es eigentlich nicht wiederholen: Die Impfung wirkt, die Impfung ist sicher, die Impfung schützt - nicht nur den Impfling, sondern viele weitere Menschenleben und das Gesundheitssystem vor Überlastung. So weit, so gut.
Dennoch verhalten sich Menschen weiterhin nicht vernünftig. Sie zögern, das zu tun, was nach wissenschaftlicher Erkenntnis richtig ist. Sie verweigern sich, wo doch das Risiko, selbst schwer zu erkranken und andere anzustecken, deutlich größer ist, als durch die Impfung Schaden zu erleiden. Muss man diese Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen? Hat die Gesellschaft nicht einen Anspruch darauf, solche Mitbürger zur Immunisierung zu zwingen?
Meine Antwort lautet: Auf gar keinen Fall.
Schon eine Impfpflicht für Pflegepersonal macht mir schwere Bauchschmerzen - nicht nur, weil Angehörige der medizinischen Berufe es ja eigentlich besser wissen und längst geimpft sein sollten. Aber hier wäre eine Pflicht gerade noch so hinnehmbar, weil diese Leute naturgemäß in medizinischen Einrichtungen präsent sind und ungeimpft eine Bedrohung für ihre Patienten darstellen. Sie könnten sich einen anderen Beruf suchen, ihre Patienten jedoch haben nicht die Möglichkeit, sich andere, geimpfte Pflegekräfte zu suchen.
Selbstbestimmungsrecht als Teil der Menschenwürde
Unser Autor Thomas Leidel findet die Impfpflicht falsch, aber natürlich gibt es auch gute Argumente für eine gegensätzliche Position. Christian Berger hat in seinem Kommentar aufgeschrieben, warum er eine Impfpflicht für dringend geboten hält. Lesen Sie den Gegenkommentar hier.
Eine Impfpflicht ist ein schwerwiegender Eingriff in die Selbstbestimmung eines Menschen, für die es nur in engen Ausnahmefällen Gründe geben kann. Denn zur Selbstbestimmung gehört neben vielen anderen Dingen das Recht, zu bestimmen, was in den eigenen Körper eingebracht werden soll. Unter Zwang ein Medikament zu verabreichen, und wäre es in der besten Absicht, heißt, einem Menschen Gewalt antun, ihn seiner Würde zu berauben.
Und wie sollte das praktisch aussehen? Mobile Rollkommandos, die Menschen auf dem Bürgersteig einfangen und ins Impfzentrum fortschaffen? Greiftrupps, die Impfverweigerer aus dunklen Kellern zerren? Oder ihnen die Spritze gleich an Ort und Stelle verabreichen? Die ihnen einen NFC-Chip unter die Haut pflanzen? Das Szenario scheint vielleicht übertrieben. Aber im Ernst: Wie soll man eine allgemeine Impfpflicht durchsetzen? Drakonische Geldbußen? Beugehaft? Unmittelbarer Zwang? Das kann niemand ernstlich wollen. Das ist nicht mit der Menschenwürde vereinbar. Wer sich dafür ausspricht, hat die Folgen seiner Forderung nicht bedacht.
Wir alle sind verantwortlich
Wer nun Zögerliche zwingen will, hat außerdem nicht begriffen: Wir alle sind Mitschuld. Denn wie kommt es denn, dass so viele Menschen das Vertrauen verloren haben in Aufklärung, in wissenschaftliche Erkenntnis, in Vernunft und Rationalität? Wer hat dieses Vertrauen verspielt? Es waren wir alle: Profitgier im Gesundheitswesen, Unaufrichtigkeit in der Politik, Kritiklosigkeit in den Medien, Denkfaulheit und Unwillen, uns zur wissenschaftlichen Methode zu bekennen, in zur Not zähen Gesprächen für Vernunft zu werben, für Solidarität und Empathie und im Alltag Mitmenschlichkeit erlebbar zu machen sowie - verzeihen Sie das schwülstige Wort - Nächstenliebe.
Menschen, die sich als gleichberechtigter Teil der Gesellschaft verstehen, die sich aufgehoben fühlen und darauf vertrauen, in schwerer Lage Hilfe zu erhalten, werden nicht ein kleines Risiko scheuen, um der Gemeinschaft und sich selbst einen Dienst zu tun. So handeln nur Eingeschüchterte, Verhetzte, Verunsicherte. Das ist unser aller Versagen: Dass fast ein Drittel ihrer Mitglieder dieser Gesellschaft nicht mehr vertrauen, überall Lüge, Betrug und Hinterhalt wittern. Dass sie glauben, ja dass sie auch nur für möglich halten, sie würden getäuscht, ausgebeutet, ja abgeschlachtet. Es ist traurig.
Wir zerstören die Grundlagen
So weit ist es gekommen. Und diesen Verführten und Verblendeten wollen wir jetzt Gewalt antun, weil wir uns davon unser Heil versprechen, die Korrektur unseres Versagens, den Ausweg aus der lästigen Pandemie, unser heimeliges Weihnachtsfest? Wir würden damit das Vertrauen komplett zerstören, nicht nur bei denen, die ohnehin zweifeln. Sondern auch bei denen, die zuversichtlich daran glauben, dass Wohlstand, Sicherheit und Zukunft nur in einer pluralistischen Gesellschaft freier Individuen gedeihen.
Allgemeiner Zwang auf ausnahmslos jeden Einzelnen ist der falsche Weg. So gut können die Zwecke nicht sein, dass sie solche Mittel heiligten.
Quelle: ntv.de