
Zwei Deutsche sollen Europa führen: Scholz und von der Leyen.
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Vor den Gipfeltreffen der EU und der G7 in Elmau stellt SPD-Chef Klingbeil Ideen zur Umsetzung der Zeitenwende vor. Fast nichts davon ist wirklich neu. Es geht vor allem darum, endlich Konsequenzen aus der Einsicht zu ziehen, dass Europa in einer unsicheren Welt auf sich allein gestellt ist.
Selten war ein Begriff gleichermaßen sinnbefreit und überstrapaziert, wie die von Olaf Scholz am 27. Februar in den öffentlichen Diskurs eingebrachte "Zeitenwende". Das Wort musste herhalten als Rechtfertigung dafür, dass sich Deutschland zusätzlich zu den ohnehin horrenden Schulden zur Bewältigung von Corona- und Klimakrise weitere 100 Milliarden Euro leiht, um die Bundeswehr für die Landes- und Bündnisverteidigung zu ertüchtigen. Tenor: Auf die regelbasierte Staatenordnung als Friedensgarant ist nach Russlands Eroberungskrieg gegen einen souveränen Staat kein Verlass mehr. Dabei ist es doch eher so: Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine konnte sich niemand mehr in die Tasche lügen, wie gefährlich die multipolare Welt für Deutschland und seine EU-Partner geworden ist. Sollte sich die "Zeitenwende" aber in dieser schlichten Erkenntnis und den Bundeswehr-Milliarden erschöpfen: Um Deutschlands Zukunft wäre es schlecht bestellt.
Der SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil hat auf einer Konferenz zur Zeitenwende seine Vorstellungen präsentiert, welche Konsequenzen Deutschland aus der vermeintlich erst jetzt veränderten Lage ziehen müsse. Maßgeblich sind Klingbeils Überlegungen von der Erkenntnis geleitet, dass sehr viele Länder der US-europäischen Sanktionspolitik gegen Russland nicht folgen, sondern russische Narrative übernehmen und den Westen für die drohende Hunger- und Wirtschaftskrise in der Welt verantwortlich machen. Wäre derzeit noch ein Donald Trump US-Präsident, stünden die EU, Großbritannien, Japan, Australien und Neuseeland im Russlandkrieg fast allein da. Und was nicht ist, kann in zweieinhalb Jahren schon werden - wenn Amerika neu wählt.
Allein, allein
Die Annahme, dass sich eine übergroße Mehrheit der Staaten im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung auf den Weg zur freiheitlichen Demokratie machen würde, war ein Irrtum. Klingbeil räumt hiermit stellvertretend für seine Partei auf. Andere Parteien waren da schon etwas weiter. Der Kontinent der einstigen kolonialen Imperien verliert seinen Einfluss auf die übrige Welt. Das muss nicht schlecht sein, läuft aber im Wettstreit zwischen autoritären und demokratisch geführten Staaten derzeit nicht so gut.
Dass den Europäern mit ihren hehren, vor sich hergetragenen Werten im globalen Süden viel Misstrauen entgegenschlägt, ist nachvollziehbar. Mal dienten diese Moralvorstellungen als billiger Vorwand für anderweitig motivierte militärische Interventionen, und wo diese Überzeugungen mehr Engagement nötig gemacht hätten, hielt sich der Westen aus Eigennutz zurück. Auch die Auslandseinsätze der Bundeswehr in Afghanistan und Mali waren zuvorderst von den eigenen Sicherheitsinteressen motiviert. Viele Menschen außerhalb Europas sehen bei den einstigen Kolonialmächten eine ungebrochene Kontinuität, solange ihre Interessen mit Macht durchzusetzen, bis Europa und die USA schließlich zu erschöpft für weitere, derartige Abenteuer waren.
Und jetzt? Muss Europa sich umso mehr politisch, wirtschaftlich und militärisch so aufstellen, dass es seine Interessen aus eigener Kraft verfolgen kann. Diese lauten unter anderem: Bewältigung der Klimakrise, Wiederherstellung und Wahrung einer friedenssichernden Staatenordnung sowie Aufrechterhaltung und Förderung von Wohlstands und sozialem Ausgleich. Klingbeil führt zum Erreichen dieser Ziele ein paar in der SPD ungewohnte Begriffe ein: "Interesse", "Führungsmacht" und "militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik". In Wahrheit hat jede Bundesregierung verfolgt, was sie für deutsche Interessen hielt; hat versucht, unter den ersten Geigen im Staatenorchester zu spielen und seit 1999 durchgehend Bundeswehrsoldaten im Ausland eingesetzt. Aber ehrlich gemacht hat sie sich dabei zu selten.
Kein Verlass auf die USA
Wer den Begriff "Zeitenwende" mit Substanz füllen will, muss die Debatte darüber führen, was deutsche Interessen sind und wie sie gegen Überzeugungen abzuwägen sind. Da fehlt es an jedweder Linie: Die Bundesrepublik und die EU-Länder kooperieren aus wirtschaftlichem Interesse mit zahlreichen Diktaturen und Autokratien. Auf dem Weg zur Klimawende werden die Abhängigkeiten eher mehr, um fossile Brennstoffe für die Übergangszeit zu importieren, und auch große Teile des benötigten Wasserstoffs werden eher in geografisch günstiger gelegenen Weltregionen produziert werden. Wer die Erdogans und Al-Sisis dieser Welt zum Partner hat, kann nicht ständig den moralischen Zeigefinger heben, ohne sich unglaubwürdig zu machen. Es braucht dringend eine stringente Linie, welche Staaten als Partner tragbar sind, welche nicht und wie notwendige Kompromisse aussehen können, etwa im Umgang mit China.
Ähnlich verhält es sich mit Klingbeils anderen Begriffen: Nie ohne Wagnis voranzugehen und politische Positionen an absehbaren Mehrheiten auszurichten, wie Deutschland es insbesondere in seiner Europapolitik lange getan hat, wird nicht mehr genügen. Für den sich durchaus an seiner Vorgängerin Angela Merkel orientierenden Bundeskanzler Olaf Scholz bedeutet die von Klingbeil geforderte "Führungsmacht" eine Herausforderung: Bislang hat er dazu wenig Bereitschaft gezeigt. Schon beim Gipfel der EU-Rats- und Regierungschefs sowie beim folgenden G7-Gipfel in Elmau wird er zeigen können, ob er einen neuen Ton anschlagen und die Agenda bestimmen vorgeben will und kann. An Selbstvertrauen dazu mangelt es dem Kanzler nicht.
Und dann wäre da noch die militärische Komponente: Klingbeil will der Bundeswehr wieder "Respekt und Anerkennung" zukommen lassen. Dafür braucht es keine Fahnenappelle oder patriotische Aufkleber auf Fahrzeugen. Aber die Bundeswehr mehr in die Öffentlichkeit zu rücken und sie so auszustatten und zu strukturieren, dass sie ein attraktiver Arbeitgeber wird, ist ein Ansatz. Der ist nicht neu, wurde aber nicht konsequent umgesetzt. Und es muss benannt werden, warum die Menschen in Deutschland ihre Bundeswehr brauchen: Nicht um Demokratien in Staaten zu errichten, wo die gesellschaftlichen Voraussetzungen nicht gegeben sind. Deutschland braucht die Bundeswehr, um einen Frieden in Europa zu sichern, der so gefährdet ist, wie seit Jahrzehnten nicht - während die USA nicht mehr zuverlässig zur Stelle sind, um es an unserer Stelle zu tun.
Quelle: ntv.de