Historische Kanzlerrede Scholz' Kohl-Moment
27.02.2022, 17:41 Uhr
Olaf Scholz muss seine Amtszeit komplett neu entwerfen. Und wie er im Deutschen Bundestag heute wirkte, will er das auch.
(Foto: picture alliance / Flashpic)
Mit einem Federstrich eines mächtigen Mannes im Kreml werden zentrale Gewissheiten der deutschen Politik über den Haufen geworfen. Der Schock aus Moskau hat wenigstens für den Moment die deutsche Bräsigkeit vertrieben.
Geschichte wiederholt sich nicht, auch dieser Tage nicht. Der russische Überfall auf die Ukraine kann noch zum Dritten Weltkrieg werden, während der Fall der Mauer vor mehr als 30 Jahren ein glückhaftes Geschenk war, das Millionen Menschen Freiheit und Wohlstand brachte.
Gegenteiliger könnten die Gefühle also nicht sein, und trotzdem erlebt der neue Bundeskanzler Olaf Scholz so etwas wie seinen "Kohl-Moment". Mit einem Schlag, mit dem Federstrich eines mächtigen Mannes aus Moskau werden zentrale Gewissheiten der deutschen Politik über den Haufen geworfen - inmitten der gewohnten Bräsigkeit ist ganz viel plötzlich möglich, ganz viel plötzlich nötig: Seit der Wiedervereinigung hat man die Kegel nicht so stürzen sehen. Olaf Scholz ist noch nicht Hundert Tage im Amt, da muss er seine Amtszeit komplett neu entwerfen. Und wie er im Deutschen Bundestag heute wirkte, will er das auch. Fünf erste Punkte stellte er am Sonntag vor. Bei Helmut Kohl waren es damals zehn.
Die Wiedervereinigung hat besonders in Ostdeutschland weit tiefer in den Alltag und die Lebenswege eingegriffen, als es jetzt, nach dem russischen Überfall auf die Ukraine, bevorsteht. Vergleichbar ist jedoch, wie sehr sich binnen Tagen die deutsche Politik neu aufgeladen hat: Vermeintlich unverrückbar fest gemauerte Positionen fallen in sich zusammen, vermeintlich Undenkbares ist heute plötzlich möglich und morgen vielleicht schon selbstverständlich. Eine "Zeitenwende" hat Olaf Scholz das genannt, und der Oppositionsführer Friedrich Merz sieht es genauso. Der Schock aus Moskau hat wenigstens für den Moment die deutsche Bräsigkeit vertrieben.
Die Bundeswehr soll in einem Maße gestärkt werden wie seit Jahrzehnten nicht. Sie soll zurück auf Landes- und Bündnisverteidigung gepolt werden, was mehr als ein Jahrzehnt als überflüssig galt. SPD und Grüne applaudieren einer massiven Aufrüstung, wie sie die USA seit langem von Deutschland fordern. Das Wort "Wehrhaftigkeit" hat plötzlich einen guten Klang. Vor einer Woche wäre all das undenkbar gewesen.
Und plötzlich gehen auch Klimaschutz und Wehrhaftigkeit zusammen. Der FPD-Chef und Finanzminister macht 100 Milliarden Euro neue Schulden und nennt Strom aus Wind und Sonne plötzlich "Freiheits-Energie", weil sie von russischem Gas unabhängig machen. Das haben sie auch früher schon getan, aber Putins Krieg gibt dem Argument qualitativ neuen Nachdruck. Das könnte den gesellschaftlichen Streit um mehr Klimaschutz in Teilen befrieden, und es könnte zugleich die heimischen Kohle und die letzten Atomkraftwerke in ein ganz neues Licht rücken. Alles undenkbar vor einer Woche.
Die deutsche Außenpolitik braucht einen neuen Kompass, die gegenüber Russland und allen Nicht-Demokratien in jedem Fall. Die Außenministerin sagte im Bundestag, man stehe natürlich auf der Seite der "Kinder, die sich in U-Bahnhöfen" verstecken müssten wegen der russischen Angriffe. Zur Erinnerung: Als Wladimir Putin in Syrien Kinderkrankenhäuser und Spielplätze bombardieren ließ, stand die Bundesregierung nicht auf deren Seite, sondern wandte sich ab. Künftig wird sie an solchen Worten zu messen sein.
Das alles muss Olaf Scholz jetzt neu ordnen, weil Wladimir Putin Panzer durch Europa rollen lässt. Die Aufgabe ist groß genug, daran zu scheitern - oder ein großer Kanzler werden.
Quelle: ntv.de