Person der Woche Drosten schwankt bei Virus-Mutation
22.12.2020, 14:54 Uhr
Die Entdeckung einer britischen Coronavirus-Mutation löst neue Ängste aus. Dabei könnte es auch den Anfang vom Ende der Pandemie signalisieren. Mutationen sind normal, sie könnten zwar ansteckender, aber auch harmloser werden. Deutschlands berühmtester Virologe schwankt.
Ist die britische Virus-Mutation mit dem Namen VUI2020/12/01 wirklich gefährlich? Die panischen Reaktionen vom Notfalltreffen der EU-Ratspräsidentschaft über das Flughafen-Chaos bis hin zur kompletten Abriegelung Großbritanniens lassen Schlimmes befürchten. Europas Börsen schlingerten zum Wochenauftakt darob in Crash-Stimmung. Doch erfahrene Virologen entwarnen.

Christian Drosten ist Deutschlands derzeit öffentlichster Wissenschaftler.
(Foto: imago images/Christian Ditsch)
Zum einen seien Mutationen an sich nichts Bedrohliches. Der Direktor des Instituts für Medizinische Mikrobiologie an der Uniklinik Köln, Professor Martin Krönke, erklärt mit Blick auf die britische Mutation: "Tatsächlich handelt es sich nicht um eine Mutation, sondern um 17 verschiedene. Dass Viren mutieren, ist aber völlig normal." Zum anderen dürften die neuen Impfstoffe auch gegen die Mutanten wirken. Die Europäische Arzneimittel-Agentur Ema rechnet damit, dass der Impfstoff der Firmen Pfizer und Biontech auch gegen die neu aufgetretene Coronavirus-Variante wirksam ist. "Zu diesem Zeitpunkt gibt es keinen Beweis für die Annahme, dass der Impfstoff nicht gegen die neue Variante wirken könnte", sagte Ema-Direktorin Emer Cooke.
Allein das Pharmaunternehmen Biontech habe seinen Impfstoff bereits bei 19 Mutationen des Coronavirus getestet, gewirkt habe das Mittel bei jeder dieser Varianten, sagt Weltärztepräsident Frank Ulrich Montgomery, und weiter: "Die Mutation betrifft nur einen Teil eines Proteins auf der Oberfläche des Virus, der Impfstoff aber
zielt auf das gesamte Protein."
Drosten sprach schon vor Monaten über Mutationen
Tatsächlich können nachhaltige Virus-Mutationen auch gute Nachrichten bedeuten. Denn mit den Mutationen wird der Virus womöglich ansteckender, aber womöglich auch harmloser. Der Leiter der Virologie an der Berliner Charité, Christian Drosten, zeigte sich kam Montag "nicht so sehr besorgt" über die Berichte aus Großbritannien. Nach Drostens Einschätzung ist davon auszugehen, dass der mutierte Erreger Deutschland bereits erreicht habe.
Das müsse einen aber nicht aus der Ruhe bringen. Er sei auch schon in Australien, in den Niederlanden, Dänemark oder Belgien nachgewiesen worden. Drosten hat schon vor Monaten darauf verwiesen, dass Mutationen kommen würden. Und in ihnen auch die Chance liege, dass das Virus weniger gefährlich sei. Drosten beschreibt den Mutationsverlauf einer ansteckenderen Variante so: "Die phänotypischen Veränderungen, die dabei entstehen können, wären zum Beispiel, dass das Virus noch besser in der Nase repliziert und besser übertragen wird. Aber in der Nase werden wir nicht allzu krank davon. Das heißt, das Ganze wird auf lange Sicht zu einem Schnupfen, der sich für die Lunge gar nicht mehr interessiert. So etwas könnte passieren."
Und weiter: "Wenn so ein Virus sich noch besser auf die Nase fokussiert und uns noch weniger in der Lunge krank macht, dann laufen wir vielleicht noch längere Zeit mit einer laufenden Nase durch die Gegend und fühlen uns überhaupt nicht krank. Und dann wird das Virus noch besser übertragen." Auch die Vorsicht der Menschen könne dazu führen, "dass erfahrungsgemäß tatsächlich Virusepidemien über die Zeit harmloser werden."
Drosten kann man fast beim Denken zusehen
Drosten betont zwar, dass man noch zu wenig über die britische Mutante weiß und keine voreiligen Schlüsse ziehen könne. Doch auch andere Virologen verweisen auf "abschwächende Merkmale", die neben der Vermehrungsfähigkeit betrachtet werden müsse. So könne die Bindungsfähigkeit an menschliche Zellen beeinträchtigt werden. Denn parallel zur sprunghaft steigenden Infektionsrate in England steige die Zahl schwerer Krankheitsverläufe nicht. Seit dem Höhepunkt am 25. November fallen in Großbritannien sogar die Todeszahlen Woche für Woche.
Dass Mutationen "weniger pathogen" seien, eine nachlassende Tödlichkeit und "einen milderen Krankheitsverlauf" auslösen können, berichten auch Studien aus Singapur und Japan. Im NDR-Podcast sagte Drosten schon im Juni voraus, das Coronavirus werde über die Zeit harmloser werden. "Schon alleine durch die Bevölkerungsimmunität. Aber vielleicht spielt eben auch die Evolution noch eine Rolle dabei."
Drosten empfahl am Montag zur neuen Entwicklung in Großbritannien, "sich jetzt wirklich nicht irgendwie aus der Ruhe bringen zu lassen". Doch die Nacht zum Dienstag brachte ihn selbst aus der Ruhe. Denn plötzlich gab es neue Daten aus England und Drosten twitterte: "Das sieht nicht gut aus." Man kann dem Virologen derzeit beinahe beim Denken zusehen. Denn der nächtliche Feed geht weiter: "Positiv ist, dass Fälle mit der Mutante bisher nur in Gebieten zunehmen, wo die Gesamtinzidenz hoch oder ansteigend war. Kontaktreduktion wirkt also auch gegen die Verbreitung der Mutante."
Es ist diese offen abwägende, falsifizierende Tonlage, die Drosten in der Corona-Krise zur wissenschaftlichen Leitfigur werden ließ. In der neu entfachten Angst vor Mutationen zählt er - anders als Deutschlands Dauerkassandra Karl Lauterbach von der SPD, der bereits einen "Teufelskreis der Mutationen" ausruft - ausdrücklich nicht zu den Apokalyptikern. Er folgt vor allem einer Leitlinie: der wissenschaftlichen Redlichkeit. Und die will erst einmal mehr wissen, bevor man Alarm oder Entwarnung ruft.
Quelle: ntv.de