Person der Woche Erdogans Kriegslust - der blutige Traum vom neo-osmanischen Reich
30.07.2024, 11:30 Uhr Artikel anhören
Der türkische Präsident droht Israel mit Krieg und positioniert sich als Heerführer des Islam. In Europa nimmt man seine Drohung kaum ernst. Das könnte ein fataler Fehler sein. Denn Erdogan ist skrupellos, hat die zweitgrößte Armee der NATO und ist wie Putin auf historische Taten aus.
Es ist eine Mischung aus offener Drohung und Kriegserklärung. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan kündigt eine militärische Intervention in Israel an. Die gewaltsame Einmischung wird nicht als Möglichkeit formuliert oder irgendwie konditioniert. Erdogan sagt nicht "wir könnten" oder "wenn … dann" oder "wir sollten", er sagt: "Wir werden". Die Drohung ist glasklar: "So wie wir in Berg-Karabach reingegangen sind, so wie wir in Libyen reingegangen sind, werden wir mit ihnen dasselbe tun."
Da ein Angriff der Türkei auf Israel den Nahen Osten in einen militärischen Großkrieg stürzen würde, wiegeln viele europäische Diplomaten die Drohung ab. Erdogan-Versteher unter den Nahost-Experten vermelden, er meine das nicht ernst, sei ein notorischer Schwadroneur und rede viel, wenn der Tag lang sei. Erdogan wolle mit lautem Israel-Hass bei seinen radikalen Wählern nur innenpolitisch punkten und von der Wirtschaftskrise (die Inflation liegt derzeit bei 71,6 Prozent) ablenken. Erdogan werde bestenfalls den Palästinensern ein wenig mehr Unterstützung zukommen lassen.
Diese Verharmlosungshaltung prägt auch die deutsche Türkeipolitik seit Monaten. Bundeskanzler Olaf Scholz und Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rollten Erdogan nur wenige Wochen nach dem 7. Oktober den roten Teppich aus, obwohl der sich zum internationalen Wortführer des Israel-Hasses und der Hamas-Solidarität aufgeschwungen hatte.
Auf den Spuren der Osmanen
Neue Geheimdienstanalysen warnen nun die europäischen Regierungen, dass man Erdogans Gewaltpotenzial womöglich gefährlich unterschätze - ähnlich wie Putins militärische Absichten kurz vor der Invasion in die Ukraine. Die Geheimdienste weisen darauf hin, dass Erdogan seine Militärdoktrin sehr konkret auf Aggression und Intervention umgestellt habe. Die Militäreinsätze Ankaras in Syrien, Somalia, Libyen und Aserbaidschan folgten einem neo-osmanischen Plan der glaubensbewegten Expansion. Mehr als 60.000 türkische Soldaten seien bereits in Auslandseinsätzen aktiv, jüngst in Aserbaidschan, wo man an der ethnischen Säuberung und Vertreibung der armenischen Christen aus Berg-Karabach beteiligt gewesen sei.
Erdogan hatte schon auf den Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag der Türkischen Republik ein islamistisches Manifest proklamiert und unverhohlen zum Glaubenskrieg aufgerufen.
Mit einer Truppenstärke von rund 450.000 aktiven Soldaten und 380.000 Reservisten stellt die Türkei nach den USA die zweitstärkste Streitmacht der NATO dar. Und Erdogan betreibt massive Aufrüstung. Im vergangenen Jahr stiegen die Rüstungsausgaben um 37 Prozent auf 16 Milliarden Dollar. Für das laufende Jahr sollen die Ausgaben gar um 150 Prozent auf gewaltige 40 Milliarden springen. Von den Bayraktar-Drohnen über die Kurzstreckenrakete "Tayfun"-bis zum Kampfjet namens "Kaan" reicht das selbst entwickelte, stolz präsentierte Waffenarsenal. Die massive Aufrüstung dokumentiere die Absichten Erdogans, seine gewaltige Militärmacht auch zu nutzen, warnen Militärexperten.
"Gaza nicht anders als Adana"
Tatsächlich steht Erdogan im Gaza-Krieg nicht nur solidarisch an der Seite der Palästinenser. Er lobt demonstrativ und explizit die Terrortruppe Hamas als "Befreiungsorganisation" und vergleicht Israels Premier Benjamin Netanjahu mit Hitler. Der Westen sei Drahtzieher Israels, aber in diesem "historischen Kampf" werde die Türkei den muslimischen Glaubensbrüdern beistehen. "Wir werden erfolgreich und siegreich bleiben. Keine imperialistische Macht kann dies verhindern", sagte er.
Erdogan sieht sich als Erben des Osmanischen Reiches und spricht das Szenario offen an: "Manche Leute mögen Gaza als einen fernen Ort betrachten, der mit uns nichts zu tun hat", sagte er am Samstag. "Aber vor hundert Jahren war für diese Nation Gaza nicht anders als Adana." Tatsächlich gehörte Gaza einmal zum Osmanischen Reich. Erdogans Größenwahn basiert auf der Wiederherstellung osmanischer Größe, ganz ähnlich wie Putin das sowjetische Imperium wieder herstellen will.
Erdogan warnt seit Monaten offen, der Westen solle sich in Acht nehmen, Israel weiter zu unterstützen. "Will der Westen wieder einen Kampf zwischen Halbmond und Kreuz?", fragte er in seiner Rede zum Staatsjubiläum. "Wenn Sie eine solche Anstrengung unternehmen, seien Sie sich darüber im Klaren, dass diese Nation nicht tot ist." Erdogan sieht den Islam als Teil eines globalen Kulturkampfs, er will vom neuen Massenbewusstsein der Muslime profitieren und positioniert sich als Heerführer seines Glaubens. Er bekennt auch offen, dass die Außenpolitik der Türkei diesem strategischen Ziel dient, seine Verweise auf Libyen und Berg-Karabach sind daher mehr als Wortgeklimper.
Erdogan will Muslime von "Tyrannei der Kreuzfahrer" befreien
Was in Europa kaum jemand wahrhaben will: Erdogan sieht sich in einem aktiven Glaubenskrieg zwischen Orient und Westen. Wie ein Antagonist zum westlich orientierten Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der die moderne, laizistische, demokratische Türkei schuf, in der die Religion aus dem öffentlichen Leben zurückgedrängt wurde, stilisiert sich Erdogan als moderner Glaubenskrieger, der an der Rückkehr des neo-osmanischen Reiches arbeitet.
Auch symbolpolitisch nutzt er jede Gelegenheit, seinen Islamismus auszuleben. So ließ er die für ihre Fresken weltberühmte Kirche "Sankt Salvator in Chora" in Istanbul zwangsweise zu einer Moschee umfunktionieren. Die Kirche, die sich im Nordosten des antiken Stadtzentrums befindet, gilt als eine der wichtigsten Beispiele byzantinischer Sakralarchitektur weltweit. Im vergangenen Jahr hatte Erdogan bereits die Hagia Sophia demonstrativ in eine Moschee verwandelt, um den Westen gezielt zu erniedrigen. Die Kirche ist ein kulturelles Monument der Christenheit, für 1123 Jahre wichtigstes Gotteshaus der Orthodoxen, 89 Kaiser wurden hier gekrönt und 125 Patriarchen prägten die Geschichte des christlichen Byzanz. Von Athen bis Moskau war daher das Entsetzen gewaltig. Doch Erdogan feixte von einer islamischen "Auferstehung".
Zum Wahlkampfabschluss seiner Kampagne besuchte er medienwirksam die Hagia Sophia, um dort sein letztes Abendgebet vor den Wahlen zu verrichten und den Türken zu zeigen, was sein religions-aggressives Programm bedeutet. Seine Propagandazeitungen lobten die Provokation als "Vorboten zur Befreiung der Al-Aksa-Moschee in Jerusalem, die Muslime verlassen die Phase des Interregnums". Man befreie sich von der "Tyrannei der Kreuzfahrer". Womöglich haben die Geheimdienstler mit ihren Warnungen recht - und man sollte Erdogans Drohungen ernster nehmen.
Quelle: ntv.de