"Collinas Erben" fühlen mit Ganz aus Gewohnheit gegen die Regeln
17.01.2022, 06:37 Uhr

Daichi Kamada musste gegen den FC Augsburg ordentlich einstecken.
(Foto: picture alliance / SvenSimon)
Beim Spiel zwischen Augsburg und Frankfurt hat der Schiedsrichter alle Hände voll zu tun: Gelb oder Rot, Elfmeter oder Offensivfoul, strafbares Handspiel oder nicht, Kopfstoß oder Zusammenprall - viele Entscheidungen sind knifflig. Doch im Verbund mit dem VAR meistert der Referee die Herausforderungen gut.
Als Schiedsrichter Sven Jablonski am Sonntag die Partie zwischen dem FC Augsburg und Eintracht Frankfurt (1:1) anpfiff, konnte er noch nicht ahnen, dass ihm zum Ausklang der Woche ein arbeitsreicher Nachmittag mit einer Reihe von schwierigen Entscheidungen bevorstehen würde. Die erste davon trug sich bereits nach einer Viertelstunde zu, als sich der Augsburger Michael Gregoritsch im Zweikampf mit Tuta, der den Ball am Fuß führte, verschätzte und den Frankfurter mit den Stollen an der Wade traf. Jablonski verwarnte Gregoritsch dafür; es war eine Karte, deren Farbe sich mit "dunkelgelb" beschreiben ließe. Denn viel fehlte zum Feldverweis nicht.
Was das Strafmaß angemessen machte, war die richtige - oder doch zumindest allemal vertretbare - Bewertung des sogenannten Trefferbildes durch den Unparteiischen: Gregoritsch hatte Tuta keinen Volltreffer verpasst, sondern ihn nur mit dem seitlichen Teil der Sohle getroffen. Der Kontakt war zudem kurz und nicht von hoher Intensität. Damit war das Vergehen rücksichtslos, aber nicht gesundheitsgefährdend brutal. Deshalb hatte Video-Assistent Pascal Müller auch keinen Anlass, Jablonski nach der Überprüfung der Szene ein On-Field-Review zu empfehlen.
Der Elfmeter für Augsburg wird zu Recht einkassiert
Anders verhielt es sich in der 33. Minute. Nach einem Zweikampf zwischen dem ballführenden Augsburger Andi Zeqiri und Makoto Hasebe an der Frankfurter Strafraumgrenze gingen beide Spieler zu Boden. Der Referee pfiff, um auf Strafstoß für die Gastgeber zu entscheiden, während der Ball zu Ricardo Pepi gelangte, der ihn ins Tor der Gäste schob. Die Hausherren beschwerten sich bei Sven Jablonski darüber, dass dieser nicht einfach den Vorteil abgewartet hatte. Doch wie sich herausstellen sollte, lagen die Dinge ohnehin ganz anders, als der FCA und der Schiedsrichter sie zunächst eingeschätzt hatten.
Denn nicht Hasebe hatte Zeqiri gefoult, vielmehr war es genau umgekehrt: Als der Augsburger zum Schuss ausholte, lief der Frankfurter zwischen ihn und den Ball; statt des Spielgeräts traf Zeqiri schließlich den Knöchel von Hasebe. Aufgrund dieses Wahrnehmungsfehlers griff VAR Müller ein und riet Jablonski zum Gang an den Monitor. Als der Unparteiische aufs Feld zurückkehrte, nahm er seine Elfmeterentscheidung richtigerweise zurück - der Kontakt hatte sich ohnehin außerhalb des Strafraums ereignet, selbst im Falle eines Vergehens von Hasebe hätte der Strafstoß also keinen Bestand gehabt - und entschied auf Freistoß für die Eintracht. Außerdem verwarnte er Zeqiri, dessen Tritt auf Hasebes Knöchel den Tatbestand der Rücksichtslosigkeit erfüllte.
Für den Referee ist Lindströms Handspiel nicht strafbar
Kurz vor der Pause kam es zu einer weiteren Intervention aus der Videozentrale in Köln. Nach einer Flanke in den Frankfurter Strafraum stieg der Augsburger Robert Gumny zum Kopfball, verfehlte die Kugel jedoch, die stattdessen auf den über Kopfhöhe erhobenen, ausgestreckten Arm des Frankfurters Jesper Lindström fiel. Schiedsrichter Jablonski nahm dieses schwer zu erkennende Handspiel offenkundig nicht wahr, Video-Assistent Pascal Müller sprach deshalb die nächste Review-Empfehlung aus. Das war korrekt, denn hier lag, um es in der Sprache des VAR-Protokolls zu formulieren, ein möglicher schwerwiegender übersehener Vorfall vor, bei dem es nicht wegen einer falschen, sondern wegen einer fehlenden Wahrnehmung des Unparteiischen zu einem On-Field-Review kommt.
Sven Jablonski bewertete das Handspiel jedoch als nicht strafbar, vermutlich deshalb, weil er es als unabsichtlich einstufte und den deutlich erhobenen Arm nicht als Teil einer unnatürlichen Haltung bewertete, mit der Lindström ein Handspiel zumindest in Kauf nahm. Sondern als Bestandteil einer normalen Bewegung und Armhaltung im Zweikampf mit einem Gegenspieler, ohne das Ziel, den Ball aufzuhalten. Dieses Urteil kann man jedoch zumindest hinterfragen, denn es ist nicht recht ersichtlich, welchem fairen Zweck das Heben des Arms über Kopfhöhe, ohne selbst zum Kopfball zu springen, gedient haben soll. Ein Strafstoß wäre deshalb naheliegend gewesen, auch wenn es nicht so war, dass es keinen Ermessensspielraum für den Schiedsrichter gab.
Oxford gegen Kamada: Foul oder Zusammenprall?
Auch nach dem Seitenwechsel ereignete sich eine knifflige Situation, und zwar nach 64 Minuten. Timothy Chandler schlug eine Flanke in den Strafraum der Gastgeber, dort sprangen sein Mitspieler Daichi Kamada und der Augsburger Reece Oxford zum Kopfball. Kamada erreichte die Kugel und köpfte sie aufs Tor, Oxford kam einen Wimpernschlag zu spät und traf deshalb nur den Kopf seines Gegenspielers. Der Ball flog derweil über das Gehäuse des FC Augsburg ins Toraus. Beide Spieler gingen zu Boden und mussten behandelt werden, anschließend setzte der Unparteiische die Partie mit einem Abstoß fort.
Es gäbe Grund zur Frage, warum es in dieser Situation keinen Strafstoß für die Eintracht gab. Schließlich verursacht ein Verteidiger, der im eigenen Strafraum beim Tackling mit dem Fuß einen Moment zu spät kommt und statt des Balls einen Gegner trifft, ja auch einen Elfmeter gegen sein Team. Doch im Unterschied dazu wird bei Kollisionen mit den Köpfen in der Praxis häufig entschieden, dass kein Foul vorlag, sondern bloß ein unglücklicher Zusammenprall - bisweilen auch dann, wenn ein Spieler klar zuerst am Ball war und der andere die Kollision damit eigentlich zu verantworten hat. Vielleicht liegt diese Bewertung als Unfall daran, dass niemand freiwillig einen solchen Kopftreffer auch nur in Kauf nehmen würde; das gesundheitliche Risiko ist dafür viel zu groß.
Warum Fouls nach Torabschlüssen oft ungeahndet bleiben
Ein weiteres ungeschriebenes Gesetz, das eigentlich nicht regelkonform ist, führt oftmals dazu, dass Foulspiele nach einem Torabschluss nicht geahndet werden, wenn der Ball ohnehin am Tor vorbeigeht. Denn der betreffende Angreifer wird durch das Foul ja nicht beim Torschuss beeinträchtigt und damit nicht am Torerfolg gehindert. Was sich regeltechnisch trotzdem nicht begründen lässt, ist gleichwohl eine weithin akzeptierte, auch international übliche Praxis, von der die Schiedsrichter eher selten abweichen und gegen die sich kaum einmal Einspruch regt. In Augsburg hielten sich die Beschwerden der Frankfurter ebenfalls in engen Grenzen.
Dass Sven Jablonski nicht auf Strafstoß entschied und sein VAR kein drittes Mal eingriff, entsprach somit den Gepflogenheiten beim Umgang mit unglücklichen Kopftreffern und vor allem mit Vergehen nach erfolglosen Torabschlüssen. Dass das von den Regeln eigentlich nicht gedeckt ist, gereicht dem Referee nicht zum Vorwurf und liegt nicht in seiner Verantwortung. Für den Unparteiischen wie auch für den Video-Assistenten war es ein forderndes Spiel, in dem die Kooperation passte, selbst wenn auf den angemessenen Eingriff nach Lindströms Handspiel kein Strafstoß folgte. Bemerkenswert war es zudem, mit welcher kommunikativen Fertigkeit Jablonski auch schwierige Entscheidungen vermittelte. Der 31-Jährige, seit dem 1. Januar FIFA-Schiedsrichter, hat sich längst für anspruchsvolle Aufgaben empfohlen.
Quelle: ntv.de