WM-Analyse mit Borowka "In der kompletten Truppe sind Risse"
27.06.2018, 20:57 Uhr
Alleine im Desaster: Die DFB-Elf hat das WM-Aus selbst zu verantworten.
(Foto: dpa)
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft schreibt bei der Weltmeisterschaft 2018 Geschichte. Es ist ein Eintrag in die Chronik des Verbandes, auf den niemand stolz ist. Noch während das Abschieds-Drama gegen Südkorea (0:2) läuft, fangen die ersten Spieler an zu weinen. Nach drei ganz schwachen Auftritten scheitert eine DFB-Elf erstmals in der Vorrunde. 27 Minuten nach Spielende fragt unser WM-Experte Uli Borowka: Telefonieren wir trotzdem? Natürlich. Es klingelt. Der Experte nimmt ab und stellt die erste Frage ...
... Uli Borowka: Dat is' mal 'ne Aktion, oder?
n-tv.de: Unfassbar, aber auch unfassbar verdient. Oder nicht?
Das muss man jetzt wirklich so sagen. Es ist absolut verdient, dass wir ausgeschieden sind.
Was war denn los? Einen Spieler wie Sie, der auf dem Platz immer alles gegeben hat, muss das doch wütend machen ...
Das ist richtig. Das ist absolut richtig. Ich will da jetzt gar nicht von der taktischen Ausrichtung reden. Aber wenn ich sehe, dass da gar keine Leidenschaft, kein Einsatz und kein Wille sind, dann läuft da wirklich komplett was falsch.
Wie erklären Sie sich das denn?
Ich habe das in unseren WM-Analysen ja schon mehrfach gesagt. Da muss etwas in der Mannschaft sein, ein Bruch, ein Riss. Denn es kann doch nicht sein, dass in jedem Spiel bisher mehr als die Hälfte der Spieler komplett ausfällt. Natürlich hast du immer mal einen oder zwei dabei, die nicht ihre Top-Leistung liefern. Aber so? Das kann doch nicht sein! Aber da war ja kein Aufbäumen. Da war keine Leidenschaft. Wenn ich die Südkoreaner sehe, die haben alles reingeworfen, die sind für ihr Land gerannt, haben gekämpft.
Und trotzdem ist das eine Mannschaft, die Deutschland eigentlich schlagen muss!
Ja, natürlich. Wir haben nichts von den genannten Tugenden auf den Platz bekommen. Mit einer Mannschaft, die 80 Prozent ihres Leistungsvermögens erreicht, fährst du Südkorea an die Wand. Dabei ist auch völlig egal, wen du aus dem 23er-Kader aufstellst.
Und wenn du deren Abwehr konsequent beschäftigst, dann schießt du doch auch ein Tor!
Natürlich, aber natürlich! Du machst dann nicht nur ein Tor, du schießt zwei, drei. Aber nicht so und nicht mit einer taktischen Leistung, die überhaupt nicht darauf ausgerichtet ist, was da für eine Mannschaft auf der anderen Seite steht. Ich habe da wirklich nichts erkannt.
Zum Beispiel Leon Goretzka, der hat seine Rolle ja auch gar nicht gefunden?
Nein, ganz und gar nicht. Aber jetzt wirklich nichts gegen den Jungen. Der wurde einfach so reingeworfen, ohne klaren Plan und ohne Linie, was er spielen sollte. Das ist dann natürlich auch brutal schwer für ihn. Aber das war ja nicht das Schlimmste.
Ulrich "Uli" Borowka ist ein ehemaliger deutscher Fußballprofi und -trainer sowie Autor des Buches "Volle Pulle. Mein Doppelleben als Fußballprofi und Alkoholiker", in dem er seinen Weg aus der Drogensucht beschreibt. In der Bundesliga kickte Borowka für Borussia Mönchengladbach, Werder Bremen und Hannover 96. Für n-tv.de ist er nun als WM-Experte im Einsatz.
Oh, wir sind gespannt ...
Aus meiner Sicht haben Sami Khedira und Mesut Özil genau das Gleiche gespielt, wie gegen Mexiko, nämlich: Sowas von schlecht. Özil nimmt den Ball an und spielt zwei Meter nach links, nimmt den nächsten Ball an und spielt nach rechts. Wenn er den Anspruch hat ein Leader zu sein, dann hat er heute gezeigt, dass er es nicht ist.
Und Khedira?
Bei einem Khedira hast du nach dem ersten Fehlpass direkt das Weiße in den Augen gesehen.
Er hat den ersten Fehlpass in der ersten Minute gespielt.
Ganz genau. Er hat Angst Fehler zu machen, irgendetwas falsch zu machen. Ich bekomme nicht in meinen Kopf, wie das Weltklasse-Spielern passieren kann. Da bin ich wirklich fassunglos.
Können Sie sich an etwas Vergleichbares erinnern?
Nein, Ausfälle in dieser Vielzahl habe ich noch nicht erlebt. Das ist doch unglaublich. Und noch etwas macht mich sprachlos. Wir sind schon wie gegen Mexiko hinterhergelaufen. Wir waren nie auf der Höhe, wir waren immer mindestens einen Schritt zu langsam. Die Jungs waren nicht frei im Kopf.
Woran liegt's? Immer noch an der Erdogan-Affäre?
Ich weiß nicht, ob wir da nochmal drauf rumreiten müssen. Aber ich sage ganz klar: In der kompletten Truppe sind Risse. Da sind Gräben, von denen wir noch nichts wissen. Es muss einen Grund dafür geben, dass so viele Spieler von der Leistung so wegbrechen. Ich denke, dass wir da in den nächsten Tagen noch einiges erfahren werden.
Außer Mats Hummels und Manuel Neuer können wir ja eigentlich jedem Spieler in diesem Turnier etwas vorwerfen, oder nicht?
Nein, Niklas Süle hat seine Arbeit wirklich toll gemacht. Der ist ein klasse Junge. Und Hummels hat's ebenfalls toll gemacht. Ich kann ihm nur den Kopfball vorwerfen. Den macht er normalerweise mit verbundenen Augen. Aber an solchen Tagen bricht sich halt auch mal ein Top-Mann wie er den Finger in der Nase. Und über Neuer brauchen wir nicht reden. Was mich heute besonders schockiert hat, war die Körpersprache. Die Mannschaft wirkt mehr tot als lebendig. Da siehst du mal, was es mental ausmacht, wenn die Leader ihre Leistung nicht bringen. Das reißt alle runter.
Die immer gleiche Frage: Muss Joachim Löw sich vorwerfen lassen, falsch aufgestellt zu haben?
Löw hat sich natürlich was dabei gedacht. Viel dramatischer ist für mich, was ich bereits mehrfach angesprochen habe, dass da kein Einsatz, keine Leidenschaft und kein Wille waren. Und dass die Jungs fast immer einen Schritt zu spät gekommen sind. Nur in der zweiten Halbzeit gegen Schweden war das etwas besser. Dabei haben wir doch Spieler, die über die Dynamik kommen. Ich will das mal so zusammenfassen: Diese Mannschaft war mental überhaupt nicht in der Lage die Vorrunde zu überstehen.
Ja, es ist doch unfassbar, dass die Mannschaft nach ein, zwei Fehlpässen plötzlich Angst bekommt!
Das zeigt mir die psychische Verfassung jedes einzelnen Spielers.
Und was wird nun aus Löw?
Och, wenn er der Meinung ist, dass das WM-Aus viel mit ihm zu tun hat, dann wird er seine Schlüsse daraus ziehen, dann wird er nicht an seinem neuen Vertrag hängen. Vielleicht ist seine Zeit jetzt auch abgelaufen? Wenn er der Meinung ist, dass er die Mannschaft nicht mehr erreicht, dann wird er so ein breites Kreuz haben, um zu DFB-Präsident Reinhard Grindel zu gehen und zu sagen: Das war's. Ich suche mir was anderes. Das passt nicht mehr und gut ist.
Mensch, Herr Borowka. Und jetzt? Was machen wir denn jetzt?
Haha, ich mache Urlaub und kümmere mich um meinen Favoriten England. Eine tolle Mannschaft, die ich mir sehr gerne angucke. Das ist Leidenschaft, Wille, Zweikampf dabei. Ich sage: Die Engländer kommen verdammt weit! Diese Truppe musste erstmal schlagen.
Viel Spaß und einen schönen Urlaub!
Mit Uli Borowka sprach Tobias Nordmann
Quelle: ntv.de