
England feiert "Prince Harry" - und der den Erfolg seines englischen Teams.
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England erfindet seine Heldengeschichten neu: Dank Harry Kane träumt das Mutterland des Fußballs vom ersten WM-Titel seit Wembley 1966. Die beiden starken Auftritte der "Three Lions" zeigen, dass das gar nicht so weit hergeholt ist.
Helden - davon hat Englands Fußball schon viele hervorgebracht. Da ist natürlich Geoff Hurst, der die "Three Lions" mit dem berühmtesten Tor der WM-Geschichte 1966 zum bisher einzigen Titel schoss, und noch heute den verdienten Legendenstatus genießt. Da ist David Beckham, der mit England zwar nie einen Titel gewann, dafür aber mit seiner schillernden Persönlichkeit zu den größten Stars gehört, die die Insel so hervorgebracht hat. Und nun? Ist da Harry Kane, der das Fußball-Mutterland nach den teilweise blamablen Turnierauftritten der jüngeren Vergangenheit und 52 Jahre nach Wembley vom Titel träumen lässt.
Gegen den bemitleidenswerten Weltmeisterschafts-Debütanten aus Panama hat sich der Torjäger der Tottenham Hotspur in einen Rausch geschossen. Beim 6:1-Torfestival vor 43.319 Zuschauern im russischen Nischni Nowgorod zeigte er ein Kunststück, das zuvor nur zwei andere englische Spieler vollbracht haben: Drei Treffer in einem WM-Spiel. Gelungen war das einst Sturm- und Twitter-Ikone Gary Lineker - 1986 beim 3:0-Erfolg in der Vorrunde gegen Polen - und eben Hurst, beim 4:2 im Finale 1966 gegen Deutschland. Kane, den sie auf der Insel bereits als "Prince Harry" adeln, steht stellvertretend für das "neue" England, das mit furiosem Offensivspiel begeistert - auch über die Grenzen des Ärmelkanals hinaus. Und weil das fußballerisch anspruchsvolle Inselpublikum in den vergangenen Jahren viel Leid ertragen musste, soll Kane jetzt die englische Heldengeschichte fortschreiben.
Ohne Kanes Tore geht es nicht
Der von der Fifa zum "Man oft he Match" gekürte Kapitän gab sich nach dem furiosen zweiten WM-Auftritt allerdings gewohnt bescheiden. Natürlich freue er sich, das sei ein fantastisches Spiel gewesen. "Alle haben sehr gut gespielt und wir hatten Spaß zusammen. Natürlich bin ich sehr glücklich, gar keine Frage", diktierte er in die Mikrofone der wartenden Journalisten. Allerdings sei es so, dass der Weg zum Titel noch "sehr lang und steinig" sei. Was er nicht sagte: Ohne die Tore des Kapitäns dürfte er so gut wie unmöglich sein.
Dass Kane Tore schießen kann, hat er während der Saison in der Premier League eindrucksvoll unter Beweis gestellt. 48 Treffer erzielte er für die Spurs wettbewerbsergreifend – wie torgefährlich der 24-Jährige ist, das hatte auch die Dortmunder Borussia bei der 1:3-Niederlage im Champions-League-Vorrundenspiel in London krachend erfahren. Damals traf Kane doppelt, wie übrigens auch im Auftaktspiel der Fußball-WM gegen Tunesien. Zweifler aus der Heimat, ob er die Leistungen aus dem Verein auch im Nationaltrikot bringen kann, dürften nach dem starken Turnierstart endgültig verstummen.
Immer wieder war zuvor darauf verwiesen worden, dass Kane bei der EM 2016 in Frankreich kein einziges Mal getroffen hatte. Für die "Three Lions" gipfelte die Flaute ihres Torjägers im peinlichen Achtelfinal-Aus gegen den damals noch fußballzwergigeren Fußballzwerg Island. Die Zeitung "Guardian" hatte von der "erniedrigendsten Niederlage der Geschichte" gesprochen - eine Pleite, die das Ende einer Generation alter englischer Haudegen bedeutete. Die Rooneys, Lampards, Terrys und Gerrards verabschiedeten sich spätestens jetzt, genau wie Trainer Roy Hodgson. Sein Nachfolger, Sam Allardyce, durfte sich dann an der Aufgabe versuchen, die völlig zerschossene Nationalelf zu revolutionieren. Weil Allardyce jedoch auf Journalisten des "Daily Telegraph" reinfiel, freimütig über die Dummheit des englischen Verbands FA ablästerte und Tipps im Umgang mit lästigen Transferregularien gab, scheiterte das Projekt nach gerade einmal zwei Monaten. Ein unfreiwilliges Aus, das im Nachhinein wohl das Beste war, was dem Verband hätte passieren können.
Southgate übernimmt
Der damalige U21-Coach Gareth Southgate übernahm eher als Notlösung, denn als Wunschkandidat, wurde von der nationalen Presse mitunter belächelt. Southgate, der Name war bis dato untrennbar mit einer der anderen schmachvollen Niederlagen im englischen Fußball verbunden: dem verlorenen Elfmeterschießen im EM-Halbfinale 1996 gegen Deutschland. Als Southgate den entscheidenden Elfmeter an den Pfosten zimmerte. Southgate, auf der Insel das Symbol einer ewig anhaftenden Niederlage.
Diese Wahrnehmung hat sich grundlegend gewandelt. Southgate hat das englische Team umgekrempelt und zurück in die Erfolgsspur geholt. In Russland stellt England mit einem durchschnittlichen Alter von 26,1 Jahren die drittjüngste Elf aller Teilnehmer, nur Frankreich und Nigeria kommen auf einen niedrigeren Wert. Dabei ragt Kane, der mit seinen 24 Jahren der jüngste Kapitän der englischen WM-Geschichte ist, heraus. Doch ihm zur Seite stehen in der Offensive Spieler wie Dele Alli (Tottenham) oder Raheem Sterling (Manchester City), die mit ihren 22 und 23 Jahren nicht nur in der englischen Elf, sondern auch in ihren Premier-League-Klubs zu den Stammkräften gehören. Dass bei den "Three Lions" auch Erzrivalen aus den beiden Manchester-Klubs aufeinandertreffen - inzwischen kein Problem mehr.
England zeigt sich in Russland bislang als verschworener Haufen, der Teamgeist steht über allem. Ob der Museumsbesuch in der berühmten Eremitage von St. Petersburg, regelmäßige Bowling-Sessions oder ein Wettrennen auf aufblasbaren Einhörnern, England versprüht bei der WM eine positive Energie, die nicht nur auf dem Platz sichtbar wird. Immer wieder betonen alle den Zusammenhalt. Grüppchenbildung, wie sie nach dem Mexiko-Fiasko in der DFB-Elf kolportiert worden war, gibt's nicht. Kane, der Ausnahmekönner ohne Starstatus, sagte nach dem Auftaktsieg: "Wir haben eine enge Bindung auch abseits des Platzes, das ist schön." Schön anzusehen, in der Tat. Und vor allem kein ganz unwichtiger Faktor auf dem Weg zum Titel.
Quelle: ntv.de