Wie wird das Börsenjahr 2023? "DAX hat einen Riesen-Bewertungsabschlag"
29.12.2022, 14:20 UhrUkrainekrieg, Energie-Embargo, Inflation, Zinserhöhungen: Für den DAX ist 2022 kein gutes Jahr gewesen. Zu viele Störfaktoren verdarben die Stimmung. Das Börsenjahr 2023 kann also nur besser werden. Doch die Expertenmeinungen gehen auseinander.
2021 legt der DAX prozentual zweistellig zu. Der Aktienmarkt kennt nur eine Richtung. Doch 2022 ist die Rally jäh zu Ende. Statt stetig steigender Kurse drängen sich die Themen Inflation und Zinserhöhungen und damit auch die Volatilität auf dem Börsenparkett in den Vordergrund. Im Jahrestief geht es für den deutschen Börsenleitindex unter die 12.000er-Marke. Damit liegt die Handelsspanne in diesem Jahr bei etwa 4000 Zählern. "2022 war ein besonderes Börsenjahr", sagt Finanzmarktexperte Benjamin Feingold von Feingold Research. "Kaum einer hatte damit gerechnet und plötzlich bestimmen die Themen Gasmangel, Öl-Embargo, steigende Energiepreise und zweistellige Inflationsraten das Handeln der Investoren."
"Den russischen Krieg in der Ukraine wollte so recht vorher keiner wahrhaben", erklärt auch der Geschäftsführer der FIDUKA Depotverwaltung, Marco Herrmann. "Das 2022 ein schwieriges Börsenjahr wird, war aber schon vorab absehbar: Die Kurse sind nach der Coronavirus-Pandemie deutlich gestiegen, die Bewertungen waren ausgereizt", erläutert er. "Aus Anlegersicht war das Börsenjahr 2022 kein leichtes, eher eines zum Vergessen."
Die große Unbekannte
Herrmann ist aber sicher: "2023 wird besser, auch wenn weiterhin viele Fragen offenbleiben: Wie viele Zinserhöhungen wird es noch geben? Was macht die Inflation? Bekommt China Corona in den Griff? Wie sind die Aussichten auf ein Ende des Ukraine-Krieges? Auch das Wetter stellt eine der großen Unsicherheiten für das Börsenjahr 2023 dar", unterstreicht Herrmann: Ein harter Winter lässt die Gasspeicher schneller leerlaufen. Eine Zwangspause in der Industrie wäre dann durchaus möglich, samt einer spürbareren Rezession."
"Die große Unbekannte ist die Rezession", prognostiziert auch der geschäftsführende Gesellschafter bei der AK Vermögensverwaltung, Carsten Riehemann. "Angst sollten Anleger davor aber nicht haben, denn aus einem Wirtschaftsabschwung ergeben sich auch Chancen - etwa bei Dividendentiteln mit einer geringen Schwankungsbreite, beispielsweise aus dem Nahrungsmittel- oder Gesundheitsbereich", erläutert er. "Antizyklisch kann ich mir aber auch Investments in 'Big Tech' vorstellen", so Riehemann weiter. Er verweist zur Begründung auf die "hohen Margen, stabilen Geschäftsmodelle, die geringe Verschuldung und die bereits deutliche Korrektur" im Jahr 2022.
Spreu vom Weizen trennen
"Technologie insgesamt könnte 2023 wieder besser laufen. Da sind Nachholeffekte nach den teilweise deutlichen Kursrückgängen 2022 denkbar", blickt auch Feingold zuversichtlich voraus und rät: "Anleger sollten auf Unternehmensergebnisse achten, um die Spreu vom Weizen zu trennen. Positive Unternehmensausblicke gab es beispielsweise aus dem Telekom-Sektor oder der Halbleiterbranche."
"Lieber defensiv investieren in den Gesundheits- oder den Nahrungsmittelbereich", empfiehlt FIDUKA-Geschäftsführer Herrmann. "Der Grund: Die Unternehmen dieser Branchen können die höhere Kosten weitergeben", begründet er, sagt aber gleichzeitig auch: "An der Börse wird die Zukunft gehandelt! Zykliker, also konjunkturabhängige Werte, könnten im Frühjahr beginnen zu laufen. Allerdings spielt hier das Thema China wiederum eine Rolle."
"China ist ein Risikofaktor"
Herrmann führt aus: "Funktionieren die Lockerungen nach der Null-Covid-Politik? Die Impfquote ist niedrig, die Exit-Strategie nicht wirklich durchdacht. Das könnte zu Problemen in der Wirtschaft führen und auch Auswirkungen auf die globale Ökonomie haben."
Auch für Feingold Research könnte China zum Problem werden: "Zwar lockert die Regierung aktuell die strikten Einschränkungen, gehen die Infektionszahlen aber durch die Decke, bleibt abzuwarten, wie Peking schlussendlich damit umgeht. Mit Lockdowns die Wirtschaft abzuwürgen, kann sich die Regierung auf alle Fälle nicht erlauben. So oder so gilt: China ist ein Risikofaktor."
Zwischen Zinserhöhungen und Inflation
Ein Unsicherheitsfaktor aus 2022, die Zinspolitik der Notenbanken, wird sich 2023 spürbar beruhigen. Das erwartet FIDUKA-Geschäftsführer Herrmann: "Die US-Notenbank wird ihr Zinstempo verlangsamen", sagt er. "Wir gehen noch von ein bis zwei Zinsschritten 2023 aus, vielleicht jeweils um 25 Basispunkte, sodass am Ende ein Leitzins um fünf Prozent herauskommt" erklärt er und unterstreicht: "Dieser Zins wird dann auch bis Ende 2023 Bestand haben - sofern die US-Wirtschaft nicht deutlich in eine Rezession abrutscht." Mit einer Zinssenkung rechnet Herrmann aber nicht.
"Der US-Arbeitsmarkt ist laut Federal Reserve heißgelaufen", erläutert Stratege Riehemann von AK. Er rechnet schon Anfang des Jahres mit einer letzten Zinserhöhung durch die US-Notenbank. "Danach wird sie abwarten, dass die Inflation sinkt. Das Ziel dürfte Richtung Drei-Prozent-Marke laufen", hebt Riehemann hervor.
In Deutschland und Europa bleibt die Inflation dagegen auf hohem Niveau: "Das Inflations-Peak wird hierzulande im Januar oder Februar zu sehen sein - bei vermutlich 12 bis 13 Prozent", so FIDUKA-Geschäftsführer Herrmann. "Das ist den hohen Strom- und Gaspreisen geschuldet. Ab dem Frühjahr sollten die Teuerungsraten dann aber zurückkommen."
Für Feingold Research bleibt die Inflation in Deutschland und Europa 2023 auf hohem Niveau. "Das könnte die Angst vor einer Stagflation schüren, also hohe Teuerungsraten gepaart mit einer schwächelnden Konjunktur. Das ist das ungünstigste Szenario für 2023 und nicht ausgeschlossen", so Benjamin Feingold. "Aber ich rechne eher damit, dass sich die Zinsseite beruhigt und dadurch die Konjunkturseite wieder stärker in den Vordergrund rückt, es also nur eine milde Rezession in Europa und den USA gibt. Nichtsdestotrotz gilt: Wenn Anleger der Inflation ausweichen wollen, kommen sie an Aktien nicht vorbei!"
Aktie oder Anleihe?
Neue Rekordstände sieht man bei der AK Depotverwaltung aber nicht: "Für Aktien wird es schwer, neue Allzeithochs ins Visier zu nehmen", sagt Stratege Riehemann. "Anleihen könnten attraktiver werden: Bei fallenden Inflationsraten und schrumpfender Wirtschaftsleistung werden langlaufende Staatsanleihen guter Bonität für Anleger endlich wieder interessant", führt er aus. "Auch kurzlaufende Unternehmensanleihen mit einer Laufzeit von bis zu vier Jahren versprechen ein gutes Chancen-Risiko-Verhältnis aufgrund der stark gestiegenen Nominalrendite."
"Anleihen sind mit den steigenden Zinsen interessanter geworden", erklärt FIDUKA-Geschäftsführer Marco Herrmann. "Vier bis fünf Prozent Rendite bei einer Unternehmensanleihe muss der Aktienmarkt erst einmal generieren. Aber Anleger sollten auch nicht vergessen: "Der DAX hat einen Riesen-Bewertungsabschlag. 16.000 Punkte sind durchaus machbar."
Quelle: ntv.de