Wirtschaft

Psychologe über Urlaubs-Flatrate "Unbegrenzt viel Urlaub ist kein Gefallen"

Mit einer unbegrenzten Zahl von bezahlten Urlaubstagen wollen immer mehr Firmen begehrte Bewerber anlocken.

Mit einer unbegrenzten Zahl von bezahlten Urlaubstagen wollen immer mehr Firmen begehrte Bewerber anlocken.

(Foto: dpa)

Unternehmen wie Netflix bieten ihren Mitarbeitern unbegrenzt bezahlten Urlaub. Wirtschaftspsychologe Uwe Weinreich, selbst Unternehmer im Bereich New Work, erklärt im Interview, warum sich unser aller Urlaubsmodell ändern und die klassische Arbeitszeit sinken wird, und was Chefs in der neuen Arbeitswelt leisten müssen. Mit seinem inzwischen vierten Startup Independesk vermittelt Weinreich temporäre Arbeitsorte.

ntv.de: So viel bezahlter Urlaub, wie man will, klingt super, oder?

Uwe Weinreich: Das klingt immer gut und passt sicherlich zu dem Bewerbermarkt, der sich ja komplett umgedreht hat in den letzten 20 Jahren: Menschen bewerben sich nicht mehr bei Unternehmen, sondern Unternehmen bewerben sich bei Menschen. Unbegrenzter Urlaub ist da sicherlich ein Vorteil, um wirklich attraktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu gewinnen. Die Regelung passt auch sehr in die Zeit, in der wir immer einen Ausgleich finden müssen zwischen persönlichen Zielen und Arbeitszielen. Auch das hat sich ja ganz deutlich verändert, gerade bei den jüngeren Generationen - dass die persönlichen Ziele sehr viel höher aufgehängt werden als beispielsweise in meiner Generation der Boomer, wo Arbeitsziele viel, viel höher angesiedelt waren, um zur Existenzsicherung und Karriere beizutragen.

Aber? Wie sieht eine solche Regel in der Praxis aus?

Nur ein verschwindend geringer Prozentsatz wird die Möglichkeit ausnutzen. Denn ich muss ja mit dem Bild, das ich von mir selbst habe und das ich anderen gegenüber präsentieren möchte, im Reinen sein. Ich muss auch eine Balance finden zwischen den Ansprüchen, die ich an mich habe, und den Ansprüchen, die die Welt an mich hat. Sich komplett auszuklinken aus sozialen Zusammenhängen, ist unendlich schwer. Insofern reguliert sich so ein endlos garantierter Urlaubsanspruch sehr, sehr schnell.

Uwe Weinreich ist Psychologe und Unternehmer.

Uwe Weinreich ist Psychologe und Unternehmer.

(Foto: Christopher Peetz)

Also nutzt eine solche Regel nur den "Unsozialen"?

Arbeitsverträge sind ja veränderbar und kündbar. Jemand, der es wirklich schamlos ausnutzt, wird nicht lange Karriere in einem Unternehmen machen. Unbegrenzter Urlaub nützt eigentlich allen. Die Entscheidung ist dann allerdings dem Einzelnen übertragen. Die Forschung zeigt ganz deutlich, dass die jüngeren Generationen Y und vor allem Z das sehr klar fordern und diese Freiheiten nutzen wollen, zum Beispiel auch remote zu arbeiten, also ihren Arbeitsort frei wählen wollen. Aber man muss natürlich unterscheiden zwischen Berufen, die eigentlich nur ein Notebook und stabiles Internet erfordern, und Produktionsmitarbeitenden, für die solche Regeln immer eine begrenzte Option bleiben werden.

Entstehen dadurch auch Ungerechtigkeiten zwischen Mitarbeitern?

Mit Sicherheit, jede Regelung produziert Ungerechtigkeiten. Diese hängen von den konkreten Regeln je nach Unternehmen ab, lassen sich also nicht pauschal benennen. Aber jede Regelung, die mehr Freiheit ermöglicht, bedeutet auch, dass diese Freiheiten kompensiert werden müssen. Unabhängig von bestimmten Berufsgruppen gibt es mit Sicherheit eine gewisse Ungerechtigkeit je nachdem, inwiefern Mitarbeitende ein Pflichtgefühl oder Bindung an das Unternehmen entwickeln und sagen, wir müssen den Betrieb aufrechterhalten. Diejenigen, die durchhalten, werden sicherlich mehr belastet werden. Und es hat nicht jeder den Mut und die Motivation, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. Das zu lösen, ist eine Herausforderung an die Führung.

In Deutschland schreibt das Gesetz mindestens 20 Urlaubstage bei einer Fünf-Tage-Woche vor. Wie viele Unternehmen bieten darüber hinaus unbegrenzten bezahlten Urlaub, lässt sich von einem Trend sprechen?

Im Startup-Bereich werben inzwischen viele damit. Dort wird allerdings auch ein Arbeitsethos erwartet, das im Grunde dazu führt, dass diese Regel nur auf dem Papier steht. Gruppendynamische Effekte spielen dort eine Rolle, so dass das praktisch nie ausgenutzt wird.

Handelt es sich um eine Modeerscheinung oder einen langfristigen Trend?

Im Moment ist es sicherlich eine Marketing-Erscheinung, um attraktive Mitarbeitende zu gewinnen. Auf der anderen Seite ist es Teil in einer langfristigen Entwicklung seit Jahrzehnten: eine Veränderung der Arbeitswelt, die nicht mehr umkehrbar sein wird. Das bedeutet zwar nicht, dass alles, was gerade propagiert wird, eins zu eins weitergeführt wird. Bei Arbeitsstrukturen und -methoden laufen ganz viele Experimente und eigentlich weiß niemand, welche sich langfristig im Routinebetrieb bewähren werden. Aber auf jeden Fall wird es nicht so bleiben, wie es ist, auch unsere Urlaubsmodelle werden sich ändern.

Was macht Sie da so sicher?

Unsere Arbeitsmodelle sind immer noch in vielen Bereichen am 19. Jahrhundert aufgehängt, in dem Maschinen Menschen in festen Zeittakten erforderten. Daher kommt unser 8-Stunden-Tag, erkämpft aus einer 60-Stunden-Woche. In Wissensarbeiter-Gesellschaften ist dieser Taktgeber der Maschine nicht mehr da. Und die psychologische Forschung zeigt ganz deutlich, dass die Produktivität, die ein Mensch in der Wissensarbeit erbringen kann, kaum über vier Stunden pro Tag liegt. Alles danach darf eigentlich nur noch sein, Routine abzuarbeiten. Das wiederum kann heutzutage eine Maschine, eine künstliche Intelligenz viel besser als wir selbst. Die produktive Arbeitszeit wird deshalb weiter sinken. Auf diesem Weg spielen natürlich Freizeit- und Urlaubsmodelle, andere Arbeitsorganisation etc. eine ganz, ganz große Rolle.

"Urlaub ohne Ende" erscheint als logische Konsequenz daraus, die Arbeitszeit nicht zu erfassen - das Ergebnis zählt, ob nun in 6 oder 16 Stunden am Tag erzielt. Ist das für Arbeitnehmer Befreiung oder im Gegenteil eine Mehrbelastung, weil jeder quasi selbst schuld ist, wie lange er oder sie arbeiten muss?

Das ist ganz klar eine Führungs- und eine Kulturfrage. Ein Berliner Unternehmer hat mir zum Beispiel erzählt, dass er in der Corona-Pandemie fürs Homeoffice eine Software eingeführt hat, die die Anschläge der Mitarbeitenden erfasst. Das ist absolut kontraproduktiv. Denn es suggeriert Selbstverantwortung, aber gekoppelt an das Modell des 19. Jahrhunderts. Diese Kopplung ist eine absolute Last und kann verheerend wirken, weil ein Leistungsdruck aufgebaut wird, der nicht durch Abarbeiten von Zeit bewältigt werden kann, sondern man muss genauso auch noch Ziele erreichen. Man hat also den doppelten Druck - die unglücklichste Version, die man überhaupt finden kann. Es ist eine Führungsaufgabe, aus der Arbeitszeit-Kultur in eine Zielerreichungs-Kultur zu kommen, die den Mitarbeitenden die Freiheit gibt, diese Ziele erreichen zu können.

Ziele sind beim Anspruch an Mitarbeitende also besser als Zeit?

Ja, das passt zu uns Menschen. Aber natürlich müssen wir da wieder trennen zwischen kognitiv und mit den Händen Arbeitenden. In Handwerk oder Produktion wird das Zeitmodell bestehen bleiben, weil es Teil der Anforderung an die zu erledigende Aufgabe ist. Bei rein kognitiver Arbeit dagegen kann Selbstverantwortung und -wirksamkeit sehr beflügeln. Die geistige Freiheit, die dadurch entsteht, kann in Produktivität umgesetzt werden. Wenn Sie eine Idee für Ihren Arbeitgeber entwickeln sollen, kommt Ihnen die vielleicht beim Joggen oder nach zwei Wochen Urlaub - nicht, wenn Sie zwei Stunden in ein Kabuff gesperrt werden. Geistige Arbeit ist nicht an den Acht-Stunden-Tag gekoppelt, das funktioniert einfach nicht.

Arbeiten die meisten Angestellten unter solchen Bedingungen mehr, weniger oder gleich viel wie bei einer vorgeschriebenen Arbeitsdauer?

Die Studienergebnisse sind nicht einheitlich, meiner Meinung nach fehlen dazu noch Daten. Es hängt stark von der Unternehmenskultur ab. Bei einer sehr ethischen Firmenkultur, wo jeder ein hohes Engagement mitbringt, verfallen Urlaubstage eher, in Deutschland genauso wie in den USA. Im Silicon Valley gibt es Entwickler, die von morgens um 8 Uhr im Bus bis abends um 22 Uhr entwickeln - und zwei Jahre lang keinen Urlaub nehmen. Diese hohe Motivation wird gefüttert durch eine Kultur, die das belohnt. Wenn man zum Beispiel bei Facebook arbeitet, wird man rundum verwöhnt mit Massagen in den Pausen, leckerem Essen und Freunden in der Firma. Man wird in diese Kultur eingefangen, und damit verfällt dann auch der Urlaubsanspruch sehr häufig. Das Risiko, das Unternehmen eingehen, wenn Sie unbegrenzten Urlaub anbieten, ist sehr gering. Selbstkonzept, soziale und Führungseffekte führen dazu, dass es selten ausgenutzt wird.

Zeigen sich dabei Unterschiede zwischen verschiedenen Beschäftigtengruppen?

Unabhängig von der Zahl der Urlaubstage zeigt die Forschung, dass die Gefahr steigt, Urlaubstage nicht zu nehmen, je höher jemand in der Hierarchie steht.

Gibt es auch Branchenunterschiede?

Da arbeitet eigentlich jede Branche ein Stück weit nach eigenen Regeln. Die Techbranche ist sicherlich besonders, weil sie komplett auf Wissensarbeit setzt. In klassischen Sektoren wie Maschinenbau oder Automobilbranche gibt es wesentlich geregeltere Arbeitsbedingungen. Da sind die Gewerkschaften stärker, und da werden Regeln teilweise dann auch vom Unternehmen selbst durchgesetzt. Bis hin zu solchen Kulturen wie zum Beispiel bei BMW, dass E-Mails nach der offiziellen Arbeitszeit einfach nicht mehr zugestellt werden - ein Zwangsschutz für Mitarbeitende. Teilweise muss man auch zwangsweise seinen Urlaub nehmen. Größere Unternehmen, die diese soziale Verantwortung wirklich leben, sorgen damit auch dafür, dass Mitarbeitende keinen Burn-out bekommen. In der Startup-Welt ist das ganz anders.

Immer mehr Branchen und Firmen spüren den Fachkräftemangel schon jetzt ganz konkret. Wer seine Mitarbeiter ausnutzt, schadet sich also eher, weil diese inzwischen leichter zu einem anderen Arbeitgeber wechseln können. Wird die in den vergangenen Jahren gestiegene Arbeitsbelastung deshalb wieder sinken oder steigt sie weiter, weil sie auf noch weniger Schultern verteilt werden kann?

Solange wir in diesem Arbeitskräftemangel stecken, lässt sich nicht verhindern, dass sich Arbeit weiter verdichtet. Wie diese Verdichtung dann aussieht, ist eine ganz andere Frage. Ein Teil des Abarbeitens wird sicherlich in den nächsten Jahren durch technische Systeme erfolgen. Mit dem KI-System ChatGPT zum Beispiel wird sehr viel kognitive Arbeit in kürzerer Zeit erreicht werden. Das Interview, das Sie gerade mit mir führen, wird vielleicht in zwei, drei Jahren ein KI-System übernehmen. Das kann dann genauso mit mir sprechen, wahrscheinlich sogar in einer natürlichen Sprache, und schreibt hinterher einen Artikel. Sie müssen dann nur noch mal drüber lesen und gucken, ob das so stimmig ist. Die Entwicklung hin zu hochqualifizierten und eher geistigen Arbeitsplätzen wird ja begleitet von anderen Entwicklungen wie der technischen und kulturellen. Ich glaube, je verdichteter Menschen arbeiten werden, desto höher wird auch der Anspruch werden, sich Auszeiten zu gönnen. Deshalb arbeiten wir ja zurzeit an veränderten Modellen für Arbeitszeit und Urlaub. Wir werden aber nicht in eine schöne neue Welt rutschen.

Warum nicht?

Das Interesse der Wirtschaft wird immer sein, die Produktivität möglichst hochzuhalten. Neue Arbeitszeit- und Urlaubsmodelle sind kein Gefallen für Mitarbeitende, sondern Experimente, um zu schauen, wie sich für das gesamte Unternehmen die Produktivität so hoch halten lässt wie möglich. Für einige Mitarbeitende wird es sicherlich mehr Freiheiten geben. Aber insgesamt wird eine dichtere Gestaltung von Arbeit unumgänglich sein.

Mit Uwe Weinreich sprach Christina Lohner

Quelle: ntv.de

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