Kriegstrophäe für Putins 9. Mai? So greift Russland nach Tschassiw Jar
22.04.2024, 07:43 Uhr Artikel anhören
Letzte Bastion vor Kramatorsk: ein ukrainischer Soldat am Rand einer Artilleriestellung bei Tschassiw Jar.
(Foto: REUTERS)
Russlands Kriegsmaschinerie zwingt die Ukraine in die nächste große Schlacht: Wenige Kilometer westlich von Bachmut nähert sich die Front gleich an mehreren Stellen der Stadtgrenze von Tschassiw Jar. Wie und wo wollen die Verteidiger die russische Übermacht aufhalten?
Bei den Kämpfen im Osten der Ukraine sehen sich die ukrainischen Streitkräfte an mehreren Stellen der Front mit russischen Großangriffen konfrontiert: Ein Schwerpunkt der von Moskau befohlenen Frühjahrsoffensive liegt rund 60 Kilometer nördlich von Donezk bei Bachmut.
Seit Wochen stößt die russische Invasionsarmee aus den Trümmern der zerstörten Donbass-Stadt Bachmut heraus unablässig und ohne Rücksicht auf Verluste Richtung Westen vor. Ziel der russischen Offensivoperationen ist offenkundig die Kleinstadt Tschassiw Jar, wie sich beim Blick auf die Karte anhand der bisher erzielten Geländegewinne ablesen lässt.
Mindestens drei russische Angriffskeile haben sich dem Stadtgebiet bereits gefährlich angenähert. Ein einzelner Vorstoß drang sogar kurzzeitig in einen östlich gelegenen Vorort von Tschassiw Jar ein. In dem von Äckern, Waldstreifen und brachliegenden Wiesen geprägten Gelände wird Tag und Nacht gekämpft. Die Lage für die Verteidiger ist kritisch, wie zuletzt auch der ukrainische Oberbefehlshaber Olexander Syrskij einräumte.
Sollte Tschassiw Jar fallen, müssten die Ukrainer einen größeren russischen Durchbruch fürchten. Hinter Tschassiw Jar beginnt weitgehend offenes Gelände. Für die Moskauer Invasionsarmee wäre dann der Weg frei für einen tiefen Vorstoß Richtung Kramatorsk und Slowjansk. Der gesamte Frontbogen im Norden Region Donezk von Bachmut über Sewersk bis zum ohnehin schon schwer bedrängten Brennpunkt Bilohoriwka geriete in akute Gefahr.

Satellitenfoto mit eingezeichneter Frontlinie: Der Frontabschnitt bei Tschassiw Jar (Bildmitte links) mit den Trümmern von Bachtmut (rechts) - die Hauptkampflinie nähert sich dem Donbass-Kanal.
(Foto: © ESA / Sentinel Hub)
Die ukrainische Führung setzt alles daran, den russischen Vormarsch bei Tschassiw Jar zu stoppen. Immerhin: Das Terrain und die Bedingungen vor Ort spielen den Verteidigern in die Hände. Die einst weniger als 15.000 Einwohner zählende Kleinstadt liegt von Bachmut aus zwar nur rund neun Kilometer entfernt, aber nach Westen hin steigt das Gelände leicht an.
Tschassiw Jar liegt auf einer Anhöhe. Das Stadtgebiet setzt sich aus mehreren, teils weit auseinanderliegenden Ortsteilen zusammen. Mehrstöckige Wohnhäuser, betonierte Keller und größere Industrieanlagen versprechen Schutz und Deckung. Zwischen reinen Wohngebieten und den für die Region typischen Datschen-Siedlungen ragt insbesondere das Spezialsandwerk im Ortskern aus dem Stadtbild heraus. Die Gleisanlagen eines Bahndamms durchschneiden die Kleinstadt in westöstlicher Richtung.
Ein Kanal als Panzergraben?
Wichtigstes Merkmal im Terrain ist jedoch ein Relikt aus Sowjetzeiten: Von Norden nach Süden trennt ein gewundener Geländeeinschnitt den östlichsten Vorort vom restlichen Stadtgebiet: Hier verläuft der in den 1950er-Jahren errichtete Donbass-Kanal, der Wasser aus dem Don-Nebenfluss Siwerskyj Donez in Richtung der Donezker Industrieanlagen leiten soll.
Der breite Graben bildet für schwere Gerätschaften wie Kampfpanzer oder Logistikfahrzeuge ein ernst zu nehmendes Hindernis. Sicher befahrbare Übergänge sind nur an wenigen Stellen zu finden. Aus vorbereiteten Stellungen lassen sich diese Übergänge im Fall einer Annäherung des Gegners leicht unter Feuer nehmen. Im bebauten Gelände sind Verteidiger generell im Vorteil.
Barriere mit Lücken
Der Kanalgraben bietet sich als Verteidigungslinie geradezu an. Schon bei den Kämpfen im Vorjahr erwies sich das schmale Gewässer als militärisch bedeutsames Hindernis. Auf Höhe von Tschassiw Jar jedoch ergibt sich für die Ukrainer ein Problem: Der Kanal verläuft nicht auf der gesamten Strecke an der Oberfläche. An mehreren Stellen verschwindet er im Erdboden. Mit großem Aufwand wollten die sowjetischen Ingenieure dort die von Osten heranreichenden Taleinkerbungen der Bachmutka überwinden. An diesen Stellen ist der Kanal verrohrt.
Genau auf diese Lücken in der Kanalbarriere scheinen die Russen zu zielen. Ihre Angriffe folgen dabei stets einem ähnlichen Muster: Raketenwerfer und schwere Artillerie nehmen die vordere ukrainische Linie unter Beschuss. Aus der Distanz werfen russische Kampfjets die gefürchteten Gleitbomben ab. Sie sollen im Rücken der Verteidiger einschlagen und dort massive Verwüstungen anrichten.
Gleichzeitig schicken die russischen Befehlshaber Welle auf Welle leicht bewaffnete Stoßtrupps in die Todeszone. Anschließend rücken Panzer und besser ausgerüstete Kampftruppen nach - während den Ukrainern nach und nach die Munition ausgeht. Unter schwer vorstellbaren Verlusten gelingt es den Russen so, die Hauptkampflinie immer weiter nach vorne zu verschieben.
Eroberung bis zum 9. Mai?
Tschassiw Jar liegt schon seit der Schlacht um Bachmut nahe der Front. Als wichtiger Verkehrsknotenpunkt diente die Kleinstadt als frontnaher Stützpunkt zur Versorgung der kämpfenden Einheiten. Nach mehr als zwei Jahren Krieg sind die Straßen und Verbindungswege Richtung Bachmut von den Wracks russischer und ukrainischer Fahrzeuge gesäumt. Tschassiw Jar selbst steht seit Monaten unter Dauerbeschuss.
Bisher können die ukrainischen Verteidiger dem russischen Ansturm standhalten. Die russische Artillerieübermacht und der ukrainische Mangel an Munition machen sich hier jedoch - an einem der aktuell wichtigsten Brennpunkte des Krieges - besonders schmerzhaft bemerkbar.
Die Lage in dem Frontabschnitt sei "zunehmend schwierig", heißt es aus Kiew. Die Situation habe sich "verschlechtert", musste auch Oberbefehlshaber Syrskij einräumen. Ein rascher Rückzug scheint ausgeschlossen. Russland wolle die Frontstadt bis spätestens zum 9. Mai "einnehmen", erklärte Syrskyj. Der 9. Mai wird in Russland als Gedenktag für den Sieg über Nazi-Deutschland begangen und in Moskau in der Regel mit einer aufwendigen Militärparade gefeiert.
Seiner Darstellung zufolge geht es der russischen Militärführung beim Kampf um die Kleinstadt vor allem um einen vorzeigbaren Propagandaerfolg. Einen solchen schmalen Triumph könnte Russlands Machthaber Wladimir Putin anscheinend dringend gebrauchen.
Denn sein groß angelegter Angriffskrieg kommt in der Ukraine - aller Brutalität und Rücksichtslosigkeit zum Trotz - insgesamt nur sehr langsam voran: Für die neun Kilometer von Bachmut bis Tschassiw Jar hat die russische Militärmaschinerie fast ein volles Jahr gebraucht.
Quelle: ntv.de