50 Jahre "Unsafe at Any Speed" Ein Buch lässt die Autowelt erzittern
02.12.2015, 12:53 UhrDass geklagt wird, ist gerade in der Autoindustrie heutzutage zum Alltag geworden. Vor allem in den USA wird bei Problemen rund um den fahrbaren Untersatz gern der Anwalt bemüht. Der Grund dafür liegt auch in einem Buch, das vor 50 Jahren geschrieben wurde.

Damals kostete das Buch fünf Dollar. Heute werden bis zu 200 Euro für "Unsafe at Any Speed" aufgerufen.
Es gibt Ereignisse, die die Autoindustrie nachhaltig beeinflussen. Neuestes Beispiel ist der VW-Diesel-Skandal. Andere wie fehlerhafte Airbags, verrutschende Fußmatten, defekte elektrische Fensterheber oder Zündschlösser sorgen für einen kurzen Aufruhr, werden nach Rückrufen und mannigfachen Entschuldigungen aber schnell wieder vergessen. Das derartige Ereignisse zu einem Produktionsstopp führen, ist in Anbetracht der Vielzahl der Fälle undenkbar.
Anders verhielt es sich vor 50 Jahren mit einem Buch, das unter dem Titel "Unsafe At Any Speed - Unsicher bei jeder Geschwindigkeit" in den USA erschien. Der Autor, Ralph Nader, ein Rechtsanwalt aus Hartford, hatte sich auf die Fahne geschrieben, mit diesem Werk Konstruktionsschwächen und Sicherheitslücken damaliger Autos schonungslos aufzudecken. "Seit mehr als einem halben Jahrhundert hat das Auto Millionen Menschen Tod, Verletzungen und unsägliches Leid zugefügt", beginnt Nader sein Werk.
"Massenmord" auf US-Straßen
"Es gibt unschätzbar viele Technologien, die Autos viel sicherer machen könnten", führt Nader weiter aus. Die Autoindustrie akzeptiere aber lieber "das Blutbad" auf den Highways, als kostspielige Sicherheitsmaßnahmen in die Autos zu bringen. Die Anklagen von Nader reichen so weit, dass ein Jahr nach Erscheinen des Buches eine Reihe von Anhörungen zum Thema Autosicherheit im Kongress stattfinden. Im politischen Olymp der USA beklagen dann auch Experten für Verkehrssicherheit den "Massenmord" auf den Straßen des Landes.
Allerdings muss man die Sache aus heutiger Sicht etwas differenzierter betrachten. Wer will, kann auch in damaligen Autos einige Sicherheitsstandards ordern. Ford beispielsweise bietet für 27 Dollar Aufpreis Sicherheitsgurte an. Allerdings nutzen lediglich zwei Prozent der Käufer diese Option. Auch eine gepolsterte Armatur ist für ein zusätzliches Entgelt im Angebot. Beim Verbraucher fand die ebenfalls wenig Zuspruch.
Garaus für den Corvair
Angesichts dieser Tatsachen stellt sich heute die Frage, ob Nader ein Verbraucheranwalt, Lebensretter oder schlicht ein verblendeter Kreuzzügler gegen die Autoindustrie ist. Während ihm die einen die Rettung abertausender Autofahrerleben zuschreiben, sehen die anderen in ihm einen machtgetriebenen Populisten, der es fast geschafft hätte, dem Cabrio den Garaus zu machen. Das, so urteilte Nader in seinem Buch, sei vor allem bei Überschlägen lebensgefährlich. Womit der Autor zur damaligen Zeit nicht ganz Unrecht hat. Die Folge ist, dass per Gesetzbeschluss die Produktion verboten wird. Von 1976 bis 1982 werden in den USA keine Cabrios gebaut.
Auch den Heckantrieb beschreibt Nader (wegen seines "schwierigen Fahrverhaltens") als einen "Antrieb, der kaum gefährlicher sein könnte". Prominentestes Opfer dieser Behauptung ist der Chevrolet Corvair, eine gegen den VW Käfer positionierte Limousine mit Hinterradantrieb und Pendelachse. Diese Kombination ist besonders bei sportlichen Fahrern beliebt. Erlaubt sie doch eine sehr dynamische Kurvenhatz. Für unachtsame Piloten birgt sie allerdings die Gefahr, dass der Wagen plötzlich ins Schleudern gerät und sich überschlägt. Dieses scheinbar unvermittelte Übersteuern kritisiert Nader als "gefährlichen Konstruktionsfehler", worauf die Verkäufe des Corvair einbrechen und das Modell 1969 nach nur vier Jahren Bauzeit eingestellt wird.
Weg für Klagewelle ist frei

Dem Chevrolet Corvair - hier ein Corsa Coupé aus dem Jahr 1965 - hat Naders Buch den Garaus gemacht.
Ob der Corvair tatsächlich gefährlicher ist als andere Autos, sei dahingestellt. In den USA tritt "Unsafe At Any Speed" jedenfalls eine Debatte los, die die Menschen für das Thema Auto und Sicherheit nachhaltig sensibilisiert. Außerdem führt es dazu, dass zahlreiche Regulierungen zur Fahrzeugsicherheit und Produkthaftung in Kraft treten. Der Staat schaut bei der Zulassung neuer Modelle genauer hin, führt neue Umwelt- und Sicherheitsbehörden ein und bringt seitdem immer wieder neue Technologien wie Airbags, ABS, ESP oder Rückfahrkameras auf den Weg. Und die Zahl der Todesopfer im US-Straßenverkehr sinkt: Kamen 1965 noch fünf Menschen je 100 Millionen gefahrener Meilen ums Leben, ist es heute nur noch einer.
Der zweite, wesentlich unschönere Effekt des Nader-Buches ist eine Klagewelle, mit der die Autohersteller in den USA überzogen werden. Allein Chevrolet muss sich mehrerer hundert Produkthaftungsklagen erwehren. Zwar gewinnt die Marke alle Prozesse, aber die Verbraucher, Umweltschützer und Sicherheitsexperten sind mobilisiert und können sich auf eine weitreichende juristische Durchsetzung verlassen. Das ist der Geist, den in jüngster Vergangenheit Toyota zu spüren bekam und in Kürze auch Volkswagen erreichen dürfte. Ohne das Buch von Nader, ohne die 1970 gegründete Umweltbehörde EPA und ohne die damals etablierten Produkthaftungsregeln hätten die Wolfsburger vielleicht weniger Gegenwind im Diesel-Skandal zu fürchten. Jetzt darf man gespannt sein, wie das Unternehmen, gerade in den USA, den Kopf aus der Schlinge ziehen wird.
Quelle: ntv.de, hpr