Leben

Klage, Aufbegehren, Hoffnung Die Musik der KZ-Häftlinge

Das Häftlingsorchester im Lager Janowska in Lviv.

Das Häftlingsorchester im Lager Janowska in Lviv.

(Foto: Wikipedia / Roman Z)

Inmitten des Grauens der Konzentrationslager entstanden Lieder und sogar Opern. Die meisten der Komponistinnen und Komponisten wurden von den Nazis ermordet. Ihre Musik erzählt von Hölle und Hoffnung. Ein Musikwissenschaftler aus Italien begibt sich auf Spurensuche.

Die Geschichte über die deutschsprachige tschechoslowakische Jüdin Ilse Weber beginnt mit der von der Musiksprache abgeleiteten Überschrift "Allegro, ma non troppo". Weber war eine Schriftstellerin und Dichterin, die ihre Texte zum Teil vertonte und auch Theaterstücke für Kinder schrieb. 1942 wurde sie in Prag zusammen mit ihrem Mann Vilém und dem jüngeren Sohn Tommy verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Ihren älteren Sohn Hanuš hatten die Eltern rechtzeitig in einen Kindertransport nach Großbritannien gesetzt.

Im KZ arbeitete Ilse Weber in der Kinderkrankenstation und schrieb an die 60 Gedichte und Lieder. Zu den bekanntesten Vertonungen zählen "Ich wandere durch Theresienstadt" und "Wiegala". Das erste war Hanuš gewidmet, in der Hoffnung auf ein Wiedersehen. Als ihr Mann Vilém im Oktober 1944 nach Auschwitz-Birkenau deportiert wurde, schloss Ilse sich ihm mit Sohn Tommy an. Zuvor versteckte sie ihre Gedichte und Lieder. Vilém Weber wurde von Auschwitz-Birkenau aus in das Arbeitslager Gleiwitz I verlegt, seine Frau und sein Sohn wurden in der Gaskammer ermordet. Nach dem Krieg ging Vilém Weber zurück nach Theresienstadt, um die Manuskripte seiner Frau zu bergen. Er bewahrte das Material bei sich zu Hause in Prag auf, bis 1968 während des Prager Frühlings ein Sowjetsoldat einen Großteil davon konfiszierte.

An das Schicksal der Familie Weber erinnert das soeben in Italien beim italienischen Verlag Feltrinelli erschienene Buch "Ein Lied wird die Welt retten". Geschrieben hat es der Musikwissenschaftler und Komponisten Francesco Lotoro. Seit 33 Jahren ist der aus Barletta in Apulien stammende 58-Jährige auf den Spuren von Musikwerken, die zwischen 1933, als die Nazis mit Dachau das erste KZ öffneten, und dem Todesjahr von Stalin 1953 geschrieben wurden.

Mindestens 120.000 Musikwerke

Lotoro ist zwar Jude, aber er möchte allen Deportierten, egal ob sie in Konzentrationslagern oder Gulags waren, anhand ihrer Musik ihre Würde zurückgeben. "Deswegen sortiere ich auch nicht aus, sondern sammle alles vom Kinderreim bis zur Oper", erklärt Lotoro im Gespräch mit ntv.de. Bis jetzt hat er 8000 Musikstücke ausfindig gemacht. "Das ist aber nur ein Bruchteil von dem, was in den Lagern und in den Gulags komponiert wurde", hebt Lotoro hervor. Er geht von mindestens 120.000 Werken aus.

Francesco Lotoro mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano, die im Frauenorchester von Auschwitz-Birkenau Akkordeon spielte. Bejarano ist im vergangenen Sommer verstorben.

Francesco Lotoro mit der KZ-Überlebenden Esther Bejarano, die im Frauenorchester von Auschwitz-Birkenau Akkordeon spielte. Bejarano ist im vergangenen Sommer verstorben.

(Foto: Fondazione Istituto di Letteratura Musicale Concentrazionaria, Barletta (Italia))

Ein Werk, das er besonders schätzt, ist die Oper "Der Kaiser von Atlantis oder Die Tod-Verweigerung". Komponiert wurde sie von dem aus Schlesien stammenden Viktor Josef Ullmann, Sohn einer jüdischen, zum Katholizismus konvertierten Familie, die 1909 nach Wien umgesiedelt war. Ullmann studierte Klavier und Komposition und nahm an Seminaren von Arnold Schönberg teil. Am 8. September 1942 wurde er verhaftet und nach Theresienstadt deportiert. Dort beauftragte ihn der Judenrat mit der Koordinierung der musikalischen Freizeitgestaltung.

"So paradox es auch klingen mag, es gab Freizeitgestaltung", erklärt Lotoro. "Sie war Teil einer zweckmäßigen Verwaltung der Lager. Angesicht der Lebensumstände, in denen sich die Häftlinge befanden - zusammengepfercht in Blöcken, spärliche Essrationen, Mangel an Hygiene und mörderische Schwerarbeit -, brauchten sie ein Ventil. Ansonsten wäre die Situation, wie in Treblinka im August 1943 und ein paar Monate später in Sobibór, explodiert." In beiden Vernichtungslagern war es zu tödlichen Aufständen gekommen.

Da unter den Deportierten viele berühmte Musiker waren, wohnten auch die KZ-Kommandanten und SS-Schergen den Vorstellungen bei. Ebenso wie die Häftlinge, falls sie die Konzerte hören konnten, zahlten sie einen Eintrittspreis. In Theresienstadt wurde sogar ein Steinway-Klavier ins Lager gebracht. Anderswo baute man sich die Instrumente selber. Zum Beispiel in Dachau, wo Häftlinge, die Tischler waren, dem inhaftierten Österreicher Herbert Zippert halfen, Musikinstrumente herzustellen. Zippert stellte auch ein Orchester auf, das sonntags in einer der nicht mehr genutzten Latrinen heimlich auftrat.

Aber zurück zu Ullman. Ein Jahr hatte er an seiner Oper gearbeitet und feilte an ihr bis zum 16. Oktober 1944, als er nach Auschwitz-Birkenau verlegt wurde, wo er kurz nach seiner Ankunft in der Gaskammer ermordet wurde. Aufgeführt wurde die Oper damals nicht, weil die deutsche Zensur meinte, in der Hauptfigur "Overall" eine Karikatur von Hitler zu erkennen. Dass das Werk trotzdem wiedergefunden wurde, ist der Tatsache zu verdanken, dass Ullmann das Manuskript kurz vor seinem Transport nach Auschwitz-Birkenau dem KZ-Bibliothekar Emil Utiz anvertraute. Der händigte es nach der Befreiung des Lagers an Hans Günther Adler, den Vorsitzenden des Judenrats in Theresienstadt, aus.

Lieder des Aufbegehrens

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Und in der Tat war so mancher Text ein Aufbegehren - wenn auch nicht immer offensichtlich. Lotoro schreibt, die Häftlinge hätten im Laufe der Zeit gelernt, "Ehre und Sarkasmus, Würde und Hohn geschickt zu vermischen." Wie zum Beispiel die Insassen des KZ Börgermoor. Nach der sogenannten "Nacht der langen Latten", während der viele Häftlinge schwer verletzt oder sogar tot prügelt wurden, trat am 27. August 1933 am Ende einer Veranstaltung des Lagerzirkus' "Konzentrazani" eine vierzigköpfige Gruppe Häftlinge auf und sang vor SS-Leuten das heute weltweit bekannte Protestlied "Die Moorsoldaten".

Die Musik hielt viele am Leben. Lotoro erinnert an den Geigenspieler Jerzy Rajgrodzki, der Treblinka überlebte und schrieb: "Im Lager half uns der Gesang (...) zu überleben und den Weg der Rettung zu finden." Von dieser Hoffnung erzählt auch der Buchenwälder Marsch aus dem Jahr 1938: "O Buchenwald, ich kann dich nicht vergessen / weil du mein Schicksal bist. / Wer dich verließ, der kann es erst ermessen, / wie wundervoll die Freiheit ist!". Text und Musik stammen von den zwei Österreichern Fritz Löhner-Beda und Hermann Leopoldi. Während Leopoldi die Freiheit wiedererlangte, kam Löhner-Beda 1942 in Auschwitz ums Leben.

Und dann ist da noch die Hinterlassenschaft von Aleksander Kulisiewicz, der 1939 mit 21 Jahren von der Gestapo festgenommen und später nach Sachsenhausen deportiert wurde. Nach der Befreiung machte es sich Kulisiewicz als einer der ersten zur Lebensaufgabe, die Musik aus den KZ aufzuzeichnen. Lotoro selber hat den 1982 in Krakau verstorbenen Kulisiewicz nicht mehr kennengelernt, dafür aber dessen Sohn Christof. Und der berichtete ihm von dem Chordirigenten Rosebery d'Arguto, der dem Vater sagte: "Alex, du bist jung, polnisch, sprichst Deutsch, du wirst überleben". D'Arguto beauftragte Kulisiewicz daher, zum Gedächtnisarchiv der Musiker in Sachsenhausen zu werden. "Und mein Vater merkte sich Dutzende Lieder, die ihm Mithäftlinge anvertrauten", erzählte Sohn Christof.

Nach der Befreiung schrieb Kulisiewicz die Lieder auf und wurde als Interpret von KZ-Liedern international bekannt. Das erschütterndste ist der "Jüdische Todessang", das der 1943 in Auschwitz ermordete Rosebery d'Arguto geschrieben hat. Darin berichtet er über das Schicksal seiner Leidensgenossen, die in die Gaskammer geschickt wurden. Es ist ein Lied aus der Hölle.

Quelle: ntv.de

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