
Die Ärzte und Pfleger der neurologischen Palliativstation wollen für die Patienten eine "lebensnahe Umgebung" schaffen.
(Foto: Charité)
Palliativmedizin verbinden die allermeisten Menschen mit dem Tod. Das ist allerdings zu kurz gedacht, sagen Ärzte der ersten Palliativstation für neurologische Erkrankungen an der Berliner Charité. Sie erklären, warum der Gedanke sogar zu großen Problemen bei der Behandlung führen kann.
Auf Station 56 der Berliner Charité lautet die Diagnose "unheilbar". Es ist die Palliativabteilung der Klinik - hier liegen und leben Menschen, deren Erkrankungen früher oder später zum Tod führen werden. Medizin kann das nicht mehr ändern, wohl aber kann sie Symptome lindern und die Lebensqualität verbessern. Der unscheinbare Eingang der kleinen Station geht auf dem riesigen Campus beinah unter. Hinter der Tür weicht die Krankenhaushektik einer ungeahnten, fast heimeligen Ruhe.
Der Blick fällt automatisch in den Aufenthaltsraum. "Das ist unser grüner Salon", sagt Petra Akbar, die leitende Pflegerin der Station. Weiche Sessel laden zum Verweilen ein und eine kleine Deko-Lampe in der Ecke wirft ein Schattenmuster an die Klinikwand. Das Zimmer ist hell, aber nicht steril. Die Tapete mit dem seicht-grünen Muster erinnert an Grashalme im Wind - der orangene Blumenstrauß auf dem Tisch komplettiert das Naturgefühl im Raum. Ein bisschen ist es, als hätte man sich bei der Einrichtung der Palliativstation am skandinavischen "Hygge"-Wohnstil orientiert. Alexander Kowski ist Oberarzt dieser Abteilung und erklärt: "Das Ziel ist es, eine lebensnahe Umgebung zu schaffen."

Der Leiter der Neurologie Prof. Dr. Ploner, Oberarzt Dr. Alexander Kowski, Stationsärztin Dr. Anna-Christin Willert und die pflegerische Leitung Petra Akbar (v.l.n.r.).
(Foto: spl)
Die Palliativmedizin will die verbleibende Lebenszeit der Patienten erleichtern, es ihnen so angenehm wie möglich machen. Im Gegensatz zur Intensivstation oder Gynäkologie "gibt es hier also keine festen Besuchs- oder Essenszeiten", sagt Petra. Alles passiere nach Absprache mit den Patienten. "Einige frühstücken um 8.00 Uhr, die anderen erst um 10.00 Uhr." Besonders freut sich die blonde Frau mit dem freundlichen Lächeln und der runden Brille über den riesigen Balkon. "Da kommt man auch mit dem Rollstuhl rauf", sagt sie und deutet auf die breite Glastür. Nur das Baugerüst raubt einen kleinen Teil der Idylle - die Fassade werde gerade renoviert.
Alles neu
Überhaupt fällt auf, dass alles neu ist. Sessel, Krankenbetten, Einbauschränke und selbst die Tageszeitung - noch wirkt nichts abgesessen oder abgegriffen. "Unsere Palliativstation gibt es erst seit Februar dieses Jahres", erklärt Christoph Ploner, Leiter der Neurologie an der Charité. Nun wurde sie offiziell eröffnet. Solche Abteilungen seien zwar nichts Besonderes mehr, allerdings "ist das eine spezielle Palliativstation für neurologische Erkrankungen" - die erste in Deutschland. Speziell ausgebildete Ärzte kümmern sich um Patienten mit Hirntumoren, Erkrankungen des Nervensystems wie Parkinson oder Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) oder auch mit Schlaganfällen.
Ploner betont: "Der Bedarf an Palliativplätzen für diese Patienten ist gigantisch." Die Augenbrauen des Arztes ziehen sich zusammen. Etwa zehn Prozent der Patienten auf normalen neurologischen Stationen erfüllen eigentlich das Kriterium für eine solche Behandlung, erklärt er. "Die Erkrankten haben trotz ausgeschöpfter Therapie Beschwerden wie eine Spastik, Schmerzen oder Angst." Bisher lagen sie auf normalen Stationen. Der Neurologe hält das allerdings für problematisch. Wenn das Personal nur vereinzelt solche schweren Erkrankungen behandle, komme "nicht die kritische Masse an Erfahrung zusammen", die es braucht, "um dem Bedarf der Patienten gerecht zu werden".
Um die Lebensqualität dieser Menschen zu verbessern, brauche es vor allem Zeit und Erfahrung. "Es ist eben nicht so, dass Patienten mit Luftnot zu uns kommen, die wir behandeln können und damit ist das Problem gelöst", erklärt der junge Oberarzt Kowski. "Das ist viel komplexer". Oft sei es schon schwierig, das Behandlungsziel zu definieren. Woher kommen die Schmerzen wirklich? Wie kann der Patient stabilisiert werden? Dafür müssen unzählige Informationen zusammengetragen werden: Von Fachärzten, von Hausärzten und früheren Behandlungen. "Das ist keine Drei-Tage-Medizin", mahnt Kowski. Vor allem, wenn man bedenke, dass "die Medizin eben nicht digital" ist. Die Ärzte müssen rumtelefonieren und Arztbriefe wälzen. Am besten sei es daher, so früh wie möglich in die Behandlung miteinbezogen zu werden - auch, um frühzeitig Pläne für später festzulegen. "Eigentlich sollte man denken, dass jemand, der die Diagnose einer lebensverkürzenden Erkrankung hat, sich bereits Gedanken über Vorsorgevollmachten und die Lebensplanung gemacht hat", sagt Ploner. "Das ist aber oft nicht der Fall."
Die meisten wollen zu Hause sterben
Dass die Palliativmedizin in vielen Fällen zu spät kontaktiert wird, könne verschiedene Gründe haben, sagt Oberarzt Kowski. Viele Ärzte vergessen es schlichtweg. Der Neurologe gibt ein Beispiel: "Wenn ein Arzt mit einem Patienten mit Hirntumor über eine Chemotherapie spricht, ist es vielleicht gar nicht so evident, dass dieser einen palliativmedizinischen Bedarf hat." Wenn die Krankheitslage dann kippe, ist die Willensbildung des Patienten oft nicht mehr so leicht. "Dann ist es zu spät." Kowski kann sich aber noch einen weiteren Grund vorstellen: Viele stellen die Palliativmedizin sehr nah ans Ende des Lebens - sie fühlen sich dem Tod dann näher. "Wir sind aber weder Sterbestation, noch Hospiz" betont er. Auch Anna-Christin Willert arbeitet auf der neuen Palliativstation. Die junge Ärztin fügt hinzu: "Unser Ziel ist es, die Symptome des Patienten so zu verbessern, dass er wieder nach Hause gehen kann."
Die Absicht der Ärzte deckt sich laut Studien auch mit dem Wunsch der Menschen. So fand die Bertelsmann Stiftung 2016 heraus, dass 76 Prozent der Deutschen zu Hause sterben wollen. Tatsächlich verbrachten jedoch nur 20 Prozent der Menschen ihre letzten Minuten in vertrauter Umgebung - viele starben in der Klinik. In Regionen mit einer guten Palliativversorgung war die Sterberate in Kliniken allerdings ein wenig geringer. Das kann auch Willert bestätigen: "Die Mehrzahl unserer Patienten können wir wieder entlassen, rund die Hälfte sogar nach Hause." Im Durchschnitt blieben die Patienten 10 bis 14 Tage auf der neurologischen Palliativstation. Bei der Behandlung müssen die Ärzte und Pfleger in ganz unterschiedliche Richtungen denken. Neben der Schmerztherapie kann auch eine psychologische Betreuung helfen. Oder eine Musiktherapie.
Mitten auf der Station liegt das kleine Zimmer der Musiktherapeutin Julia Alexa Kraft. Vorsichtig zupft sie das Saitentambourin auf ihrem Schoß. Als ein heller Ton erklingt, erklärt die Pädagogin: "Es kann ein Ton oder ein Rhythmus sein, der auf die Patienten entspannend oder belebend wirkt." Beim Lauschen der Klänge fällt Alexander Kowski ein besonderer Fall ein. "Wir hatten mal einen Patienten, von dem wir angenommen haben, dass er nicht mehr viel wahrnimmt." Als er die Töne des Instruments hörte, reagierte er jedoch. "Das hätte ich nicht erwartet", erinnert sich der Neurologe. Zwar ginge es in der Palliativmedizin mehr darum, die Symptome zu erfassen, die noch behandelbar sind. Aber in seltenen Fällen könne die Therapie sogar bei der Diagnostik helfen.
"In diesem Fall wussten wir plötzlich, dass der Patient mehr wahrnimmt, als wir dachten", erzählt Kowski. Das gehöre zu den besonderen Momenten als Palliativmediziner. Pflegerin Petra fallen noch mehr dieser Situationen ein. "Es ist immer schön, wenn man Patienten etwas ermöglichen kann." Dazu könne schon ein Bad oder ein kurzer Gang an die frische Luft gehören. "Manchmal ist es auch einfach toll, wenn der Erkrankte bereit ist, nachhause zu gehen."
"Patient und Angehörige sind eine Einheit"
Über die Frage, was zu den schweren Seiten ihres Berufes gehört, müssen Petra Akbar, Alexander Kowski und Anna-Christin Willert länger nachdenken. "Es ist nicht immer leicht, die nötige Distanz zu bewahren und gleichzeitig emphatisch zu sein", sagt Oberarzt Kowski schließlich. Es gebe Fälle, da erinnern einen die Patienten an eigene Freunde oder Familienmitglieder. Oder ihre Angehörigen wecken Erinnerungen.
Ganz am Ende der Station liegt ein kleines, aber für die Station sehr bedeutsames Zimmer. Die rund fünf Quadratmeter werden vor allem von einem kleinen Schlafsofa gefüllt - funktional, aber gemütlich. Es ist das Zimmer für Angehörige. Denn die Arbeit mit den engsten Vertrauten der Patienten ist auf der neurologischen Palliativstation "extrem wichtig", wie Kowski betont. Neurologe Ploner erklärt: "Ein fundamentaler Unterschied zu den onkologischen Patienten ist, dass die Patienten in der Neurologie oft in ihrer Kommunikation beeinträchtigt sind." Im Extremfall können sie nur noch mit Augenbewegungen kommunizieren. Allerdings geht es in der Medizin immer um die Frage: Was ist im Sinne der Patienten?
Deswegen seien "Patient und Angehörige eine Einheit", so Kowksi. Wo diese in anderen Stationen vielleicht mal zur Anamnese befragt werden oder eine Woche auf die Katze aufpassen sollen, "sind die Angehörigen hier Teil des Teams". Sie helfen mit ihren Auskünften und ihrem Wissen über die erkrankte Mutter, den Vater oder die Stiefmutter bei dem Erstellen des richtigen Behandlungsplans. Gleichzeitig versuchen die Ärzte und Pfleger der Abteilung, die Angehörigen zu entlasten. Oft bewältigen sie den Großteil der Pflege zu Hause - neben ihrem eigenen Alltag und dem Beruf. "Wir haben hier mit Erkrankungen zu tun, die das gesamte Umfeld betreffen", sagt Neurologie-Leiter Ploner.
Mobiler mit Virtual Reality
Deswegen sei es besonders wichtig, dass sie von dem Palliativ-Team geschult werden. Pflegerin Petra gibt ein Beispiel: "Eine Patientin, die sich nur durch Laute verständlich machen konnte, war mal in Behandlung bei uns. Wir haben rausgefunden, wie sie auf Ja-Nein-Fragen antworten kann." Das können die Angehörigen zu Hause natürlich auch verwenden. "Dadurch wird das Leben zumindest ein Stück leichter", fügt Petra lächelnd hinzu.

Die Palliativstation der Charité ist grün. Dieser Baum soll zum "Wunschbaum" für die unheilbar Erkrankten werden.
(Foto: spl)
Eine Therapie, die sich nur auf die Erkrankten konzentriert, greife noch aus einem anderen Grund zu kurz, merkt Oberarzt Kowski an. So empfinden Angehörige die Lebensqualität der Betroffenen oft als schlechter, als die Patienten selbst. "Was heißt das aber für die Informationen, die wir über den mutmaßlichen Willen des Patienten bekommen, wenn die Mutter, der Vater oder die Schwester die Lebensqualität viel schlechter einschätzt?" Das Therapiekonstrukt könne dann schon mal sehr vage sein, mahnt Kowski. "Das macht die Palliativmedizin so unfassbar schwer." Deswegen sei die ganze Station auf die Mitbetreuung der Angehörigen ausgelegt. Im "grünen Salon" können sie Zeit mit den Patienten verbringen, in der Küche nebenan dürfen sie kochen.
An diesem Mittag sind Küche und Aufenthaltsraum jedoch leer. Obwohl die kleine Station, die nur aus einem Gang besteht, gut zu überschauen ist, ist kein Patient zu sehen. "Ein Hauptproblem unserer Patienten ist die eingeschränkte Mobilität", erklärt Ploner. Außerdem haben viele eine Bewusstseinsstörung. Das seien Symptome, die bei onkologischen Patienten oft erst zum Schluss auftreten. "Ganz am Schluss sind die Patienten hier aber nicht."
Der Leiter der Palliativstation möchte daher über den Tellerrand blicken. Eine Idee steht bereits in den Startlöchern: "Wir mussten uns einfach überlegen, wie wir Mobilität erzeugen - und sei es virtuell." Die erste Lieferung an Virtual-Reality-Brillen habe die Station bereits erhalten. So sollen die Erkrankten "mal in ein Konzert gehen können oder ins Naturkundemuseum." Auch eigene Landschaften seien bereits in Planung. "Palliativmedizin ist eben auch Technik", schmunzelt Ploner.
Das sei jedoch nur ein Projekt für die Zukunft. Auch müsse daran gearbeitet werden, Palliativmedizin früher in eine Behandlung zu integrieren. "Die Gesellschaft wird immer älter", mahnt Alexander Kowski. In den nächsten Jahren käme es somit zu einer Situation, "in der wir viel mehr Menschen mit neurodegenerativen Erkrankungen haben." Die Palliativmedizin werde also immer wichtiger. "Wir können mit unseren zehn Patientenbetten zwar nicht die Versorgungsproblematik in Berlin-Brandenburg lösen", sagt der Oberarzt. "Aber wir können Modell dafür sein, den Palliativgedanken zu verbreiten."
Quelle: ntv.de