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Argentiniens erfolgreichster Film"Wild Tales": Jeder darf mal durchdrehen!

29.06.2015, 20:24 Uhr
imageVon Thomas Badtke
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Ja, wenn bei der Hochzeit etwas - beispielsweise der Bräutigam - aus dem Ruder läuft, können Bräute zu Furien werden. (Foto: Prokino)

Die Welt ist ungerecht und korrupt. Ein harmloser Moment kann das Fass zum Überlaufen bringen und eine Kettenreaktion hervorrufen. Manche bleiben ruhig. Andere explodieren. Gewalt als Lösung? Das macht Spaß!

Gabriel Pasternak. Nur ein Name. Als ein Mann mit Glatze in einem Flugzeug eine junge Frau anspricht, fällt in der folgenden Unterhaltung dieser Name. Der Mann ist Musikkritiker. Er hat Pasternak einst "vernichtet". Die Frau war zu dieser Zeit mit Pasternak zusammen. Was für ein Zufall. Die Überraschung wird noch größer, als sich eine ältere Dame in ihrem Sitz umdreht und zu verstehen gibt, dass auch sie diesen ominösen Pasternak kennt. Sie war an der Schule seine Lehrerin: Schon als Kind konnte er mit Kritik nicht umgehen, wie sie sagt. Er habe geweint wie ein Neugeborener, als sie ihm klarmachen musste, dass er eine Klasse zu wiederholen hat. Wie klein die Welt doch ist.

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"Wild Tales" von Damian Szifron ist bei Prokino als DVD und Blu-ray erschienen. (Foto: Prokino)

Und sie wird noch kleiner: Ein junger Mann steht auf, dreht sich zu den dreien um: Es ist ein ehemaliger Klassenkamerad Pasternaks. Die Lehrerin faselt etwas von "kosmischer Fügung". Ein weiterer Mann, in einem schicken Anzug mit Weste, schaltet sich ein: Er kenne Pasternak ebenfalls, denn er sei Hotelmanager und Pasternak habe dort gearbeitet, dieser "Gestörte". Er habe ihn feuern müssen, weil es immer zu Problemen mit Gästen gekommen sei.

Ein Flugzeug voller alter Bekannter

Jetzt wird es dem Mann mit der Glatze unheimlich. Er steht auf: "Verzeihung, kennt hier noch jemand der Anwesenden Gabriel Pasternak?" Die Worte finden bei den anderen Flugzeugpassagieren Gehör. "Ich." "Ich." "Ja, ich auch." Selbst die Stewardess kennt ihn, denn Pasternak sei der Kabinenchef auf diesem Flug, sagt sie. Ein Raunen setzt an - und ebbt sofort wieder ab: Und er habe den Piloten vorhin Kaffee in die Kabine gebracht. Nun sei die Tür verriegelt, keiner antworte.

Da sackt das Flugzeug plötzlich ab. Sinkflug. Ein kleiner untersetzter Mann rennt zur Kabinentür, klopft. Schreit. Er sei der Psychiater Pasternaks. Als er den Stundensatz angehoben habe, sei Pasternak nie wieder aufgetaucht. Der Psychiater appelliert an Pasternak: Nicht er sei an allem schuld, an den Problemen in seinem Leben. Nein - die Eltern seien es! Die Kabinentür bleibt verschlossen, kein Mucks dringt dahinter hervor.

Ein Kameraschwenk. Ein älteres Ehepaar sitzt in seinem Garten und trinkt gemütlich Kaffee, als der Mann am Himmel ein Geräusch wahrnimmt. Er schaut nach oben, sieht nichts. Er schaut nochmal hin, da rauscht das Flugzeug heran. Schnitt.

Wie wenn das Lachen im Halse stecken bleiben will

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Wenn das Ego eines Autofahrers angekratzt wird, kann das auch mal tödlich enden - wie in "Wild Tales". (Foto: Prokino)

Das ist die erste Geschichte aus "Wild Tales", dem erfolgreichsten argentinischen Kinofilm aller Zeiten. Auf 3,3 Millionen Zuschauer brachte es der von Agustin und Pedro Almodovar mitproduzierte Streifen, der nun auf DVD und Blu-ray in Deutschland erhältlich ist. Als Zuschauer sitzt man ungläubig vor dem Fernseher und denkt: Ist das wirklich gerade passiert? Darf ich nach der Germanwings-Katastrophe über so etwas lachen? Vielleicht darf man nicht, aber man muss einfach!

Nach dieser kleinen Abhandlung über einen Mann, der sich nach allem, was die Gesellschaft ihm angetan hat, an den Schuldigen eiskalt und bis ins kleinste Detail geplant, rächt, folgen noch fünf weitere bitterböse, rabenschwarze Episoden: So fühlt sich etwa der Fahrer eines nagelneuen Audi von einer vor ihm dahinschleichenden Rostlaube drangsaliert, überholt das in Schlangenlinien ihn ausbremsende Vehikel dennoch irgendwann - und beschimpft dessen Fahrer aufs Übelste. Kurz darauf hat der Audi einen Platten und die beiden sehen sich wieder. Ja, wenn es um das Thema Auto geht, verstehen auch Argentinier keinen Spaß.

Wie aus dem Leben gegriffen

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Eine zum Himmel schreiende Ungerechtigkeit mit Folgen macht aus einem friedliebenden Ehemann und Familienvater einen "Bomber". (Foto: Prokino)

Ebensowenig beim Thema Traumhochzeit oder wenn man sich von der Obrigkeit verarscht fühlt: Ein glücklich scheinender Ehemann und Familienvater will zur Geburtstagsfeier seiner Tochter nur die Torte nach der Arbeit abholen und sofort nach Hause. Doch ein Halteverbotszeichen, vollkommen verblichen und kaum leserlich, kostet Nerven, Zeit, Geld und am Ende Ehe, Job und Freiheit. Immerhin: Am Ende wird der Mann als "Bomber" gefeiert.

Und so geht es munter und lockig-flockig weiter. Das Schockierende dabei: All die Episoden sind auch in Deutschland denkbar. Das Vertrauen in den Staat und seine Gewalten schwindet, ganz nach dem Motto: Man kann doch eh nichts daran ändern. Aber das stimmt nicht. Man kann - "Wild Tales" beweist das!

"Wild Tales" hat was

Das kann in Gewalt enden, dem Tod oder sogar mit Happy End - aber egal wie, immer ist es lustig. Immer sitzt man da und ist versucht, sich ein Lachen zu verkneifen. Schließlich ist es ganz und gar nicht witzig, wenn ein Autounfall mit Fahrerflucht eine schwangere Mutter samt Ungeborenem tötet. Aber wie Polizei, Staatsanwalt und Rechtsbeistand versuchen, den Vater des Unglücksfahrers auszunehmen, als der versucht, seinen missratenen Sprössling vor dem Bau zu bewahren, amüsiert. Erst recht, als der Vater dann den Spieß umdreht und mit "Basta"-Mentalität verkündet, dass sie ihn alle einmal kreuzweise können - das hat halt was.

Dazu ist "Wild Tales", ein absolut hochwertig inszenierter und schauspielerisch sehr gut besetzter (dabei sind etwa: Leonardo Sbaraglia, Ricardo Darin, Maria Marull) Sechs-Episoden-Film über scheinbar harmlose Momente, die das Fass zum Überlaufen bringen; über Menschen, die die feine Linie zwischen Zivilisation und Barbarei überschreiten; über Otto Normalverbraucher, die so lange ruhig bleiben, bis eben dieser eine nicht vorhersagbare Moment passiert - und sie explodieren.

"Wild Tales" ist eine so rabenschwarze Komödie, wie man sie sonst nur von den Iren (beispielsweise "A Film with me in it") oder den Briten kennt - und sie ist deshalb auch ein absolutes Muss für Fans dieses Genres. Aber auch für alle, die Druck auf dem Kessel haben. Der ultimative Tipp: "Wild Tales" schauen, das hilft garantiert!

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Quelle: ntv.de

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