Panorama

Große Pläne im Fall Maddie Christian B. kommt frei - und Ermittler brechen Versprechen

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Im vergangenen Jahr wurde B. in einem weiteren Missbrauchsprozess aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

Im vergangenen Jahr wurde B. in einem weiteren Missbrauchsprozess aus Mangel an Beweisen freigesprochen.

(Foto: picture alliance/dpa/dpa-Pool)

Im Juni 2020 blickt die Welt nach Braunschweig: Die Staatsanwaltschaft erklärt Christian B. zum Hauptverdächtigen im Fall Maddie McCann. Die Ermittler sind überzeugt, ihn dafür zur Verantwortung ziehen zu können. Fünf Jahre später ist die Hoffnung auf Aufklärung verpufft - und Christian B. ein freier Mann.

Es kommt nicht oft vor, dass die Staatsanwaltschaft sich einer Täterschaft "zu 100 Prozent sicher" ist und dennoch - über Jahre - keine Anklage erhebt. So war die Ansage der Braunschweiger Ermittler Ende 2021 durchaus bemerkenswert: Man sei davon "überzeugt", dass Christian B. Maddie McCann 2007 entführte und tötete. Weil der Verdächtige aber ohnehin wegen eines anderen Delikts in Haft sitzt, würde man sich Zeit nehmen, um "ihn mit den bestmöglichen Beweisen" anzuklagen, hieß es damals weiter. Angesichts des damaligen Ermittlungsstandes lehnten sich die niedersächsischen Ermittler mit ihrem Versprechen an die Welt weit aus dem Fenster. Rund dreieinhalb Jahre später zeigt sich: offenbar zu weit.

Christian B. steht kurz vor seiner Haftentlassung. Seine siebenjährige Haftstrafe wegen der Vergewaltigung einer 72-Jährigen im Jahr 2005 hat er abgesessen, ab Mittwoch darf er aus der Justizvollugsanstalt Sehnde entlassen werden. Damit ist der weiterhin offiziell Hauptverdächtige in einem der spektakulärsten Vermisstenfälle der Welt ein freier Mann.

Um B., der auch international als "Maddie-Verdächtiger" bekannt ist, während und nach seiner Entlassung zu schützen, stehe man in engem Austausch mit der Polizei, sagt sein Strafverteidiger Friedrich Fülscher im Gespräch mit RTL. Zudem verrät er, dass B. bereits konkrete Pläne für seine Zeit in Freiheit habe. Wie diese aussehen und ob der 48-Jährige, der bereits in der Vergangenheit viele Jahre im Ausland lebte, möglicherweise plant, Deutschland zu verlassen, gibt der Jurist unter Verweis auf den Schutz seines Mandanten nicht preis. Das Recht auszureisen hätte B. allerdings. Eine Anklage gegen ihn wegen weiterer mutmaßlicher Vergewaltigungen in Portugal endete im vergangenen Jahr aus Mangel an Beweisen mit einem Freispruch für B. Weitere Haftbefehle gibt es derzeit nicht.

"Topliga der Gefährlichkeit"

Genau das sieht die Staatsanwaltschaft Braunschweig mit großer Sorge. "Aus unserer Sicht muss man davon ausgehen, dass er wieder rückfällig wird", sagte der Sprecher der Behörden, Christian Wolters, zur AFP. Die Ermittler zitieren in diesem Zusammenhang einen psychiatrischen Sachverständigen, der B. "in die absolute Topliga der Gefährlichkeit" einordnet. Zudem habe B. in Haft keine Therapie gemacht, sich also entsprechend nicht mit seinen Taten - B. ist bereits mehrfach wegen Sexualdelikten verurteilt - auseinandergesetzt.

Vor diesem Hintergrund beantragte die Staatsanwaltschaft Braunschweig eine sogenannte Führungsaufsicht für B. Sollte diese genehmigt werden, würde er etwa einen Bewährungshelfer gestellt bekommen, müsste einen festen Wohnsitz haben und sich bei Gericht melden, sobald er das Land verlassen will. Zudem bekäme er eine elektronische Fußfessel, mit der die Behörden seinen Aufenthalt jederzeit nachvollziehen können. Ob es zu diesen Maßnahmen kommen wird, muss das Landgericht Hildesheim entscheiden. Und selbst wenn, dürfte der Effekt angesichts des enormen Risikos, von dem die Ermittler ausgehen, überschaubar sein. Denn die Fußfessel funktioniert nur innerhalb Deutschlands, wie Fülscher erklärt. "Tatsächlich ist mit Überschreiten der bundesdeutschen Grenze diese Fußfessel quasi wirkungslos."

Die Braunschweiger Ermittler erhoffen sich größtmögliche Kontrolle über B. Aus Sorge um die öffentliche Sicherheit - und um zu verhindern, dass der 48-Jährige untertaucht. Denn in diesem Fall dürften die wohl aufwändigste und international bedeutendste Ermittlung der Niedersachsen erheblich erschwert werden. So haben sie auch fünf Jahre nach ihrer Ankündigung noch nicht abschließend klären können, was Christian B. mit dem Verschwinden von Madeleine McCann zu tun hat.

Welt schaut auf Braunschweig

Es war eine denkwürdige Pressekonferenz, als die Ermittler im Juni 2020 verkündeten, sie ermitteln gegen einen Deutschen im Fall Maddie - und zwar wegen Mordes. Jahrelang schien sich in dem Fall um das Verschwinden der damals Dreijährigen kaum etwas zu tun. Die Hoffnung war groß, dass das Schicksal des kleinen Mädchens endlich aufgeklärt würde und ihre Familie endlich Gewissheit bekam. Plötzlich verlagerte sich der mysteriöse Fall von der portugiesischen Algarve und dem britischen Leicestershire, wo die Familie lebte, nach Braunschweig. Denn hier hatte Christian B. seinen letzten Wohnsitz, zumindest innerhalb Deutschlands.

B. hatte zeit seines Lebens immer mal wieder im Ausland gelebt - unter anderem an der portugiesischen Algarveküste. An diesem Ort war die kleine Maddie am 3. Mai 2007 aus der Ferienanlage ihrer Familie verschwunden, als ihre Eltern in einem nahegelegenen Restaurant zu Abend gegessen hatten. B., der sich sein Leben in Portugal unter anderem durch Einbrüche in Hotels und Ferienanlagen finanzierte, rückte vor allem wegen seiner örtlichen Nähe zum Verbrechen in den Fokus der Ermittler.

Zur Zeit von Maddies Verschwinden lebte er unweit von Praia da Luz, wo auch die britische Familie McCann ihre Ferienwohnung mietete. In der besagten Nacht vom 3. Mai wählte sich sein Mobiltelefon in einen Funkmast nahe der Urlaubsanlage ein. Es dürfte sich dabei um das stärkste Indiz handeln, das B. mit dem Fall Maddie in Verbindung bringt, allerdings nicht um das einzige. B. ist mehrfach vorbestraft - unter anderem wegen Kindesmissbrauchs und des Besitzes von Kinderpornografie. Laut britischen Medien fanden die Ermittler etliche Kinderfotos, Kinderspielzeug und 75 Kinderbadeanzüge auf einem Fabrikgelände, das B. gekauft hatte. Dort sollen auch Chatverläufe sichergestellt worden sein, in denen B. seine Vergewaltigungsfantasien an Kindern mit anderen Pädophilen teilte. Außerdem, so betonte die Staatsanwaltschaft Braunschweig mehrfach, habe B. für den Abend von Maddies Verschwinden kein Alibi. All dies macht B. zweifelsfrei verdächtig. Einen konkreten Bezug zu Maddie stellen die Indizien jedoch nicht her.

Schwache Indizienkette

Im Gegensatz zu Aussagen von Zeugen. So sagen Bekannte von B., er habe ihnen gegenüber die Tat eingeräumt. Helge B. will sich laut dem "Spiegel" etwa einmal mit B. darüber unterhalten haben, dass das spurlose Verschwinden des Mädchens schon merkwürdig sei. B. habe erwidert: "Ja, sie hat nicht geschrien." Die Aussagen sind die ersten konkreten Spuren zu B. - sie haben allerdings einen Haken. Vor Gericht sind sie der schwächste Beweis, vor allem wenn die Tat 18 Jahre zurückliegt. Erinnerungen verblassen, tatsächlich Erlebtes verschwimmt mit später Gehörtem, Schilderungen sind oft kaum noch präzise.

Kurzum: Es gibt Indizien, die B. mit Praia da Luz, möglicherweise sogar mit Maddie in Verbindung bringen. Allerdings haben die Ermittler eben nichts, um ihre Ankündigung von damals in die Tat umzusetzen. Maddies Leiche, sollte sie wirklich tot sein, wurde noch immer nicht gefunden. DNA-Spuren, möglicherweise auch Fasern, die B. zweifelsfrei etwa mit dem Tatort in Verbindung bringen, gibt es nicht. Eine Anklage kommt damit nicht in Betracht.

Zwar halten die Ermittler weiterhin an ihrer Überzeugung, B. habe Maddie entführt und getötet, fest. Allerdings haben sie nur eine Chance, ihn dafür zur Verantwortung zu ziehen. Sollten sie B. anklagen und er würde aufgrund der schwachen Indizienkette freigesprochen, gäbe es keine Möglichkeit mehr, ihn im Fall von Maddie strafrechtlich zu belangen. Dies wäre sogar dann ausgeschlossen, wenn - hypothetisch - die Leiche des Mädchens mitsamt DNA-Spuren von B. gefunden würde. Grund dafür ist das Doppelbestrafungsverbot aus dem Grundgesetz: Niemand darf wegen derselben Tat mehrmals bestraft oder strafrechtlich verfolgt werden.

Große Hoffnung legten die Behörden in gleich mehrere Untersuchungen rund um den Arade-Stausee im Süden Portugals. B. soll sich an diesem Ort gerne aufgehalten haben. Zuletzt wurde das Gebiet im vergangenen Mai durchsucht. Zuvor waren "Entwicklungen in jüngster Zeit" der Anlass gewesen, wie Staatsanwalt Wolters ntv damals sagte. Über die Ergebnisse hielten sich die Ermittler jedoch sowohl 2023 als auch nach den jüngsten Durchsuchungen bedeckt. Spätestens jetzt dürfte jedoch auszuschließen sein, dass es an dem See zu einem Durchbruch kam. Andernfalls hätte die Staatsanwaltschaft Braunschweig ihn für einen Haftbefehl genutzt - und verhindert, dass Christian B. zu einem freien Mann wird.

Quelle: ntv.de

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