Rekonstruktion mit Knete "Cold Cases"-Tote bekommen ein Gesicht
18.03.2023, 09:12 Uhr
Die Technik soll helfen, unbekannte Tote zu identifizieren.
(Foto: dpa)
In einer Polizei-Hochschule in Baden-Württemberg trifft Handwerkskunst auf modernste Technologie: Mit Schädeln aus dem 3D-Drucker und Knete entstehen die Gesichter mutmaßlicher Opfer. Unbekannte Tote sollen so identifiziert werden. Bei der Arbeit ist Fingerspitzengefühl gefragt.
Vor zwei Jahren gräbt ein Bagger bei Bauarbeiten auf einem Spielplatz südöstlich von Stuttgart den Schädel eines Menschen aus. Bis heute weiß niemand, wer der Tote ist oder wie er zu Lebzeiten aussah. Als "Cold Case" - also ein "kalter Fall", der ungelöst ist - ist er beim Landeskriminalamt (LKA) in Stuttgart abgelegt. Doch nun wird er zusammen mit anderen Fällen wieder aufgerollt. Anhand der Schädelknochen soll das Gesicht rekonstruiert werden. Als Phantombild will die Polizei das Modell anschließend veröffentlichen. So hoffen die Beamten auf neue Hinweise.
Die Technik ist nun das erste Mal an einer Polizeischule in Deutschland gelehrt worden. In einem Workshop an der Hochschule für Polizei in Böblingen haben Kriminaltechniker gelernt, Toten ein Gesicht zu geben. Zuerst wird dabei mit Knete die Gesichtsmuskulatur auf den Schädel gesetzt. Anschließend modellieren die Teilnehmer und Teilnehmerinnen die Haut. Dann folgen Ohren, Augen, Nase und Mund. Nachdem die Haare aufgesetzt sind, ist vom Schädel kaum mehr etwas zu sehen.

Eine Woche dauert es, bis aus dem Schädel mit viel Fingerspitzengefühl ein Gesicht modelliert wird.
(Foto: dpa)
"Wir können am Schädel direkt ablesen, wie der Mensch aussah", sagt Rainer Wortmann, Fachkoordinator Phantombild beim LKA Baden-Württemberg. Dazu brauche es viel Fingerspitzengefühl und präzise Werkzeuge. Mit einem guten Dutzend Kollegen und Kolleginnen arbeitet Wortmann eine Woche lang an den Schädeln. Sie tasten, beobachten und vergleichen. Nach und nach entstehen so Gesichter.
"Meist ist es die letzte Hoffnung, die Menschen zu identifizieren", sagt Joe Mullins, Leiter des Workshops. Der Spezialist des National Center for Missing & Exploited Children - das ist die zentrale Vermisstenstelle in den USA - arbeitet schon seit mehr als 20 Jahren mit der Technik. Hunderte Schädel hat er in der Zeit rekonstruiert. Fast jeder sechste Mensch sei dabei identifiziert worden, schätzt er. Sein Wissen teilt er bei dem Workshop Anfang März mit Kriminaltechnikern aus Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wortmann hat den Experten dafür extra einfliegen lassen.
"Wie Wachsfiguren im Wachsfigurenkabinett"
"Die Köpfe sehen am Ende aus wie Wachsfiguren im Wachsfigurenkabinett", beschreibt Wortmann. Doch im Vergleich zu den Prominenten bei Madame Tussauds und anderen Wachsmuseen kennt die modellierten Gesichter beim Landeskriminalamt niemand. Von den Unbekannten gibt es weder Fotos noch Beschreibungen. "Ich habe keinen Zeugen, der mir sagt, was ich machen soll", sagt der Phantombild-Experte. Er müsse alles selbst am Schädel ablesen. Das sei für ihn der größte Unterschied zur Arbeit mit normalen, zweidimensionalen Phantombildern.
Im Workshop arbeiten die Teilnehmenden unter anderem an Fällen aus Baden-Württemberg. So ist der Schädel dabei, der vor zwei Jahren bei Bauarbeiten auf einem Spielplatz bei Reichenbach an der Fils südöstlich von Stuttgart ausgegraben wurde. Ohne Skelett und Unterkiefer war der Schädel in der Erde gewesen, wie Wortmann berichtet. Auch ein 2017 bei Rastatt gefundener Schädel werde nun rekonstruiert. Sogar ein Fall aus den 70er Jahren sei dabei.
Den Kriminaltechnikern und Kriminaltechnikerinnen hilft bei der Arbeit an den Schädeln besonders die "Proportionslehre". So ließen sich bei den Augen zum Beispiel gut die Form und der Augenmittelpunkt ablesen. Weiße Glaskugeln werden als Augen eingesetzt. Darauf sind Iris und Pupille gemalt. Auch die Oberlidfalte kann laut Wortmann gut bestimmt werden. Über die Analyse der DNA könne man heute sogar Haarfarbe, Augenfarbe, Geschlecht, Alter und andere Details ablesen.
Pionierarbeit beim LKA
"Individuelle Merkmale kann man an einem Schädel jedoch nicht ablesen. Falten, Narben oder Tattoos bleiben unbekannt", berichtet Wortmann. Um die Beweismittel nicht berühren zu müssen, wird nicht an den echten Schädeln gearbeitet, sondern an dreidimensional eingescannten und ausgedruckten Modellen.
Bisher sei der Bedarf an der sogenannten Gesichtsweichteilrekonstruktion in Deutschland noch nicht groß gewesen, sagt Wortmann. Es werden zwar öfter Schädel gefunden, doch nicht hinter jedem verberge sich ein Kriminalfall. Nach Absprache mit dem Zuständigen für "Cold Case"-Fälle beim LKA hätten sie sich jedoch entschieden, einige alte Fälle aufzurollen. "Wir machen hier Pionierarbeit", sagt Wortmann mit Blick auf Deutschland. "Wenn künftig Schädel gefunden werden, können wir durch die Methode den Toten ein Gesicht geben und sie so identifizieren."
Quelle: ntv.de, Pascal Eichner, dpa