Verlassen und gequält Das lange Leiden der Verschickungskinder


Viele Kinder galten als zu schmächtig, sie sollten zunehmen und wurden zum Essen gezwungen.
(Foto: picture alliance/dpa/Christoph Sandig Privatfoto)
Von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre fahren Millionen Kinder in Westdeutschland zur Kur. Sie sollen sich erholen, an Gewicht zulegen. Doch die "Verschickung" wird für viele zu einer traumatischen Erfahrung, die die Betroffenen ein Leben lang begleitet.
Untergewichtige oder kränkliche Kinder, die an Kurorten aufgepäppelt werden. Was nach einer fürsorglichen Idee klingt, ist von den 1950er- bis in die 1980er-Jahre in Westdeutschland für Millionen Kinder Realität. Allerdings kommen die allermeisten nicht gut erholt und fröhlich aus den Kurorten zurück, sondern verstört, verängstigt oder sogar krank.
Denn in den Kinderkurheimen herrscht ein Schreckensregime, das erst jetzt langsam ans Licht kommt. Anja Röhl sammelt seit Jahren Berichte von Menschen, die als Kinder auf diesen Kuren schwere körperliche und seelische Misshandlungen erlitten haben. Sie ist selbst ein sogenanntes Verschickungskind und berichtete schon 2004 und 2009 von ihren eigenen Erfahrungen.
Röhl war in Kinderkurheimen in Wyk auf Föhr und in Bad Rotenfelde im Teutoburger Wald. Geblieben ist ihr von diesen Aufenthalten vor allem ein übermächtiges Gefühl von Angst, weil sie erlebt hatte, wie Kinder ans Bett gefesselt und zum Essen gezwungen wurden. Auf ihre Berichte hin meldeten sich immer mehr Menschen, die Ähnliches erlebt hatten. Inzwischen sind mehr als 10.000 ausgefüllte Fragebögen über die Webseite zusammengekommen. Im Juni 2023 wurde der Bundesverein Initiative Verschickungskinder e.V. gegründet.
Sechs Wochen Grausamkeit
"Die meisten Kinder waren zwischen zwei und sechs Jahren", erzählt Röhl ntv.de. Sie wurden über Kinderfahrtmeldestellen in den Jugendämtern den verschiedenen Heimen zugeordnet. Dahinter stand das Versprechen von Erholung an der frischen Luft zum Kindeswohl. Die Realität sah aber anders aus. "Die Kinder haben ein Briefschreibverbot bekommen, falls sie überhaupt schreiben konnten. Es gab keine Besuche der Eltern, es war alles verboten." Die Kinder blieben größtenteils sechs Wochen, doch seien die Erholungsreisen oder Kuraufenthalte der kleinen Kinder oft auf drei bis sechs Monate verlängert worden. Vielleicht wäre die Trennung von den Eltern nicht so schlimm gewesen, wenn es einen netten pädagogischen Umgang mit den Kindern gegeben hätte. Das sei aber fast nie der Fall gewesen. "Der pädagogische Umgang war äußerst hart. Nicht nur einfach streng, sondern geradezu grausam", sagt Röhl. Es gab für die Kinder Redeverbote, Schlafzwang, oft auch körperliche Züchtigungen und immer wieder Schikanen beim Essen.
Schon kleinste Kinder seien gedemütigt und erniedrigt worden. "Die Kinder wurden in Besenschränke gesperrt, sie hatten Stehstrafen mit einer Decke über dem Kopf. Es gab Toilettenverbote in den meisten Häusern. Daraufhin hat sich die Zahl der bettnässenden Kinder natürlich enorm erhöht. Die wurden dann morgens aus den Betten gezogen und mussten sich nackt hinstellen, verhöhnt und zum Teil geschlagen von den anderen Kindern."
Auch wenn in diesen Jahren in vielen Familien sicher noch andere Erziehungsauffassungen als heute herrschten, war das, was in den Kinderkurheimen geschah, weit entfernt von dem, was die Kinder von zu Hause kannten. "Die Einrichtungen der Kurverschickung waren ja sehr weit abgelegen und erfüllten alle Kriterien der geschlossenen Institution. Sie haben die ganzen Neuerungen der 68er in keinster Weise mitgemacht", berichtet Röhl. Stattdessen hätten dort wilhelminische Zucht und schwarze Pädagogik geherrscht, "gefördert durch die Nazi-Erziehung der Mitarbeiter, die entweder ihre Kindheit oder ihre berufliche Sozialisation in gleichen Umständen durchlebt hatten". Röhl spricht von "Zuchthausmethoden".
Erinnerungen wie weggeschlossen
Die Investigativjournalistin Lena Gilhaus kommt in ihrem Buch "Verschickungskinder - eine verdrängte Geschichte" zu dem Schluss, dass es etwa 15 Millionen Verschickungen gegeben hat. Auch ihr Vater und ihre Tante waren im Frühjahr 1967 zur Kur nach Sylt geschickt worden. Die Geschwister wurden getrennt, die Tante wurde zum Essen gezwungen, der Vater von älteren Kindern sexuell missbraucht. Beide erinnern sich bis heute an die grausame Atmosphäre in dem Heim. Gilhaus hat Fallgeschichten zusammengetragen, in denen Verschickungskinder von ihren Erlebnissen berichten. Bei vielen waren die Erinnerungen jahrzehntelang wie "weggeschlossen". Zu übermächtig war das Gefühl, verlassen und ausgeliefert gewesen zu sein.
Als sich ab 2014 die ersten Verschickungskinder öffentlich äußerten, gab es keinerlei Forschung zu dem Thema. Das hat sich inzwischen geändert, auch dank der Initiative Verschickungskinder. Seit 2019 treffen sich die Betroffenen und Forschende zu Kongressen in den verschiedenen Kurorten, zuletzt in Bad Salzdetfurth, wo 1969 drei Kinder wegen der Missstände auf den Kurverschickungen gestorben waren.
Ein Dreijähriger wurde von drei sechsjährigen Jungen totgeprügelt, ein Siebenjähriger erstickte an Erbrochenem und ein Mädchen starb offiziell infolge einer Infektion, hatte aber, laut Obduktionsbefund, auch akut Erbrochenes in der Lunge. Gilhaus geht sogar von 20 Todesfällen im Zusammenhang mit den Verschickungen aus. Auch bei Zugfahrten seien Kinder ums Leben gekommen, sagt Röhl. Weil es unter anderem viel zu wenig Betreuungspersonal gab, das hätte verhindern können, dass ein Kind auf dem Weg zur Toilette die Türen verwechselt.
Endlich gehört werden
Die 69-Jährige beobachtet inzwischen eine Veränderung in der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Immer mehr Menschen fänden Gehör und machten die Erfahrung, dass ihre Erlebnisse keine Einzelfälle sind und auch keine Albträume waren. "Menschen kommen ihren Erinnerungen auf die Spur, das ist etwas ganz Großartiges, weil wir die Menschen aus dem Gefühl befreien können, dass sie unzureichend, böse, schuldig waren, wie es die Bestrafungen ihnen einst suggerierten." Bisher sei ihnen nie geglaubt worden, selbst von Therapeuten nicht. Wegen der etwa 15 Millionen betroffenen Menschen drängt Röhl darauf, dass es noch viel mehr historische Forschung geben müsse.
Jugendämter und Ärzte seien in die Verschickungen involviert gewesen, viele der Kurorte hätten in den 60er- und 70er-Jahren ihr Bruttosozialprodukt fast ausschließlich aus den Kinderkuren bestritten, weil es kaum Erwachsenenkuren gegeben habe. In der örtlichen Geschichtsschreibung werde die dunkle Seite der Verschickungen jedoch so gut wie nie thematisiert.
Gefordert werden von den Betroffenen eine bundesweit tätige, öffentlich finanzierte Anlaufstelle zur Beratung und Vernetzung und eine öffentlich finanzierte Forschungsstelle sowie ein Dokumentationszentrum, das die Erlebnisberichte öffentlich zugänglich machen soll. Röhl zufolge geht es den meisten Verschickungskindern nicht in erster Linie um mögliche Entschädigungen. "Was sie wollen, ist Hilfe bei der Vernetzung, bei der Beratung, bei der Recherche. Sie wollen, dass die Kurorte Erinnerungsplätze schaffen und dass aus dem Leid gesellschaftlich gelernt wird."
Quelle: ntv.de