Panorama

Gedenken an Italiens Coronaopfer Der Klang von Ambulanzen und Totenglocken

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Die vielen frischen Gräber auf dem Friedhof von Bergamo erinnern an die Verluste des vergangenen Jahres.

(Foto: REUTERS)

Mehr als 100.000 Menschen sind in Italien am Coronavirus gestorben. Mit einem nationalen Gedenktag erinnert das Land heute an sie. Premier Draghi wird dafür nach Bergamo reisen. Die Stadt ist zum Sinnbild der ersten Sterbewelle geworden. Doch die ersten Toten gab es im nahe gelegenen Nembro.

Die Kolonnen von Militärlastern, die während der ersten Pandemiewelle die Särge aus der lombardischen Stadt Bergamo brachten, haben die Welt erschüttert und sind zu einem der Sinnbilder dieser weltweiten Katastrophe geworden. Heute, am nationalen Gedenktag der Italiener für die Corona-Opfer, wird Premier Mario Draghi in Bergamo sein. Die Feierlichkeiten sehen auch die Einweihung des "Gedenkwaldes" in der Nähe des Krankenhauses "Papa Giovanni XXIII." vor. 100 Bäume wurden schon gepflanzt, bis zum Herbst sollen es 850 sein.

Am Abend findet dann in der Cattedrale di Sant'Alessandro, dem Dom von Bergamo, ein Konzert statt. Dirigentin Damiana Natali hat hierfür das Stück "Dona Pacem" für Soli, Chor und Orchester komponiert. "Ich habe bewusst nicht das Wort Requiem verwendet", sagt Natali im Gespräch mit ntv.de. "Die Verstorbenen sollen in Frieden ruhen, doch auch wir Hinterbliebenen müssen unseren Frieden finden und in die Zukunft blicken."

Keine Frage, es war ein "unglaublich taffes" Jahr, sagt Valentina: "Es gab Tage, an denen mir alles nur grau erschien und ich lustlos vom Bett zum Sofa und zurück pendelte. Andere, an denen ich mit Leib und Seele einem Trainingstutorial folgte, obwohl ich mich bis dahin nie für Sport interessiert hatte." Federica pflichtet ihr bei: "Oft war ich einfach froh, mich meiner Familie anvertrauen zu können, was ich schon lange nicht mehr gemacht hatte." Sara ergänzt: "Mir ging es oft mies, und ich hatte deswegen Schuldgefühle, weil ich wusste, dass es um mich herum viele Menschen gab, denen es weitaus schlechter ging. Es hat eine Weile gebraucht, bis ich mir eingestehen konnte, dass ich trotzdem ein Recht darauf hatte, mich elend zu fühlen." Valentina, Sara und Federica, alle Mitte 20, sind Freundinnen und leben in Nembro im Val Seriana, einer Gemeinde mit 11.500 Einwohnern.

Don Matteo, die treibende Kraft

Hier in diesem Tal, in den Gemeinden Alzano, Nembro und Albino, hat vor einem Jahr alles begonnen. Von hier aus schwappte die verheerende Coronavirus-Welle über die nahegelegene Stadt Bergamo. Allein in Nembro starben von Anfang März bis Ende April 2020 im Zusammenhang mit dem Virus 188 Menschen. Eine Zahl, die noch dramatischer erscheint, wenn man bedenkt, dass normalerweise die jährliche Todeszahl hier bei 120 liegt.

Das Geplauder der drei Freundinnen wird vom Podcast-Radio "Senti chi parla" (übersetzt: Hör mal, wer da spricht) übertragen. Er wurde im vergangenen Jahr von Jugendlichen der Pfarrkirche San Filippo Neri ins Leben gerufen. Viele der Jugendlichen, die sich jetzt an den Mikrofonen abwechseln, haben im vergangenen Frühjahr dafür gesorgt, dass die Gemeinde die Sonntagsmesse über ein Streaming verfolgen konnte.

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Don Matteo hofft auf eine Wiedergeburt von Nembro.

(Foto: Andrea Affaticati)

Eine der treibenden Kräfte von Nembro war und ist Don Matteo Cella, einer der Pfarrer der Kirche. Don Matteo ist 41 Jahre alt, gefühlt aber 10 Jahre jünger. Zusammen mit den Jugendlichen hat er während der ersten Welle geholfen, wo immer es zu helfen galt. "Es gab Tage, an denen die Totenglocken und die Sirenen der Ambulanzen unentwegt läuteten. Das war so unerträglich, dass wir beschlossen, beide abzustellen, um den Menschen nicht noch mehr Angst zu machen", erzählt er beim Treffen mit ntv.de. Don Matteo zeigt auf die Piazza della Libertà, den Rathausplatz von Nembro. Hier spielt sich das gesellschaftliche Leben ab "und deswegen ist er auch der Platz unserer Wiedergeburt", erzählt er weiter. Letzten Sommer wurden hier Konferenzen abgehalten, die sich mit den unterschiedlichsten Themen befassten. Zum Beispiel mit der Frage: "Was bedeutet es, eine Gemeinschaft zu sein?" "Ein besonders wichtiges Thema für die Hinterbliebenen", meint Don Matteo.

Bilder der Solidarität

Auf die Frage, warum gerade dieses Tal so dramatisch vom Virus getroffen wurde, gibt es noch keine Antwort. Die Staatsanwaltschaft ermittelt, ob man mit der sofortigen Absperrung der drei Gemeinden vielleicht Menschenleben hätte retten können, und ob die regionale Verwaltung deswegen zur Rechenschaft gezogen werden muss. Don Matteo meint, dass auch die enge Verbundenheit der Einwohner eine Rolle gespielt haben könnte. Bilder von dieser Verbundenheit hat voriges Jahr der in Nembro lebende Fotograf Marco Quaranta in seinem bewegenden Fotoband "Preghiera per Nembro" (Gebet für Nembro) festgehalten. Auf dem Titelbild sieht man eine Militärärztin, die auf einer Kirchenbank kniend betet. Es ist, wie alle Bilder in dem Band, ein Schwarz-Weiß-Foto. Der Gemeinde wurde das Buch am 23. Februar vorgestellt.

"An jenem Tag wurde das nahegelegene Krankenhaus von Alzano wegen einer unglaublich hohen Zahl an Lungenentzündungen geschlossen", erzählt Quaranta ntv.de. Er selbst habe erst ein paar Wochen später mit dem Fotografieren begonnen. "Am Anfang hatte man ja Angst, infiziert zu sein oder sich anzustecken." Doch dann trieb ihn sein Instinkt aus dem Haus, um alles, was in Nembro geschah, zu dokumentieren. Auch der Bäcker Salvatore kommt darin vor. "Um seine Familie zu schützen, hat Salvatore im Untergeschoss seiner Bäckerei geschlafen", erzählt Quaranta. Seine Eltern seien aus Sizilien gekommen, um seiner Frau mit den Kindern zu helfen, doch der Vater steckte sich an und starb nach zwei Monaten. "Man muss es erlebt haben, um zu wissen, was wir durchgemacht haben", sagt Quaranta zum Schluss.

Mattia De Danieli ist skeptisch gegenüber dem heutigen Gedenktag. Er ist 24 Jahre alt, studiert Design an der Mailänder Uni und ist beim Roten Kreuz in Bergamo. "Die Zahl der jetzigen Einsätze ist mit denen im vergangenen Frühjahr nicht vergleichbar, ausgestanden haben wir die Pandemie deswegen aber nicht", sagt er beim Treffen mit ntv.de. Gerade steckt Italien mitten in der dritten Pandemiewelle, seit Montag gelten in den meisten Regionen wieder strengere Ausgangsregeln, die Zahl der Corona-Toten liegt derzeit bei 103.000. Allein am Dienstag zählte man wieder über 500 Opfer.

Quelle: ntv.de

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