Behörden wussten von Chemikalie Die Beirut-Katastrophe war absehbar
06.08.2020, 16:47 Uhr
Jahrelang lagerte die gefährliche Chemikalie am Hafen von Beirut - die Behörden wussten davon.
(Foto: AP)
Sechs Jahre lang sollen 2750 Tonnen gefährlichen Ammoniumnitrats ohne besondere Sicherheitsvorkehrungen am Hafen von Beirut gelagert worden sein - bis sie am Dienstag explodierten. Die libanesische Hauptstadt ist nun in großen Teilen verwüstet, mehr als hundert Menschen starben, Tausende wurden verletzt, bis zu 300.000 Menschen sind obdachlos. Über die Jahre hatte es offenbar zahlreiche Warnungen wegen des Lagers gegeben, doch blieb der gefährliche Stoff dort. Jetzt läuft die Suche nach den Verantwortlichen und den Ursachen für die Katastrophe.
Wer wusste von dem Ammoniumnitrat?
Hafenbehörden, Zoll- und Sicherheitsdienste waren sich alle bewusst, dass gefährliche Chemikalien im Hafen gelagert wurden. Nun schieben sie sich gegenseitig die Verantwortung für das Unglück zu, wie es aus Sicherheitskreisen in Beirut heißt. Der Zolldirektor Badri Daher etwa will über die Jahre immer wieder auf das Problem hingewiesen haben.
Die Regierung setzte nach den Worten von Außenminister Tscharbel Wehbe einen Untersuchungsausschuss ein, der binnen vier Tagen einen detaillierten Bericht zu den Verantwortlichen für die Explosion liefern soll. Am Mittwoch hatte die Regierung zudem Hausarrest für die Verantwortlichen der heruntergekommenen Lagerhalle gefordert, in der nach vorläufigen Angaben ein Feuer ausbrach, das dann zu der verheerenden Explosion führte.
Das Vertrauen in die Behörden ist jedoch gering und viele Libanesen trauen der Regierung keine unabhängige Untersuchung zu. Die Organisation Human Rights Watch unterstützt die lauter werdenden Stimmen nach einer unabhängigen, internationalen Untersuchung.
Woher stammt das Ammoniumnitrat?
Nach Angaben aus Sicherheitskreisen soll der unter moldauischer Flagge fahrende Frachter "Rhosus" 2013 auf seinem Weg von Georgien nach Mosambik den Hafen in Beirut für einen Stopp angefragt haben. An Bord des Schiffes befanden sich 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, das unter anderem zur Herstellung von Sprengstoff gebraucht, aber auch für Düngemittel verwendet wird. Laut der Webseite Marine Traffic kam das Schiff am 20. November 2013 in Beirut an - und legte dort niemals wieder ab.
Warum wurde das Schiff entladen?
Libanesischen Sicherheitsquellen zufolge reichte eine libanesische Firma während des Transits der "Rhosus" in Beirut eine Beschwerde gegen das Frachtunternehmen ein. Die örtliche Justiz beschlagnahmte daraufhin den Frachter. Die Ladung wurde in den Hangar Nr. 12 gebracht, der beschlagnahmten Gütern vorbehalten war. Das Schiff wurde beschädigt und sank schließlich.
Was sagen Eigentümer und Kapitän des Schiffs?
Der frühere Besitzer des unter moldauischer Flagge fahrenden Frachtschiffes sieht sich nicht in der Verantwortung für den Verbleib der Chemikalie. Die Behörden des Landes hätten die Weiterfahrt untersagt und die Ladung beschlagnahmt, da sie als gefährlich eingestuft worden sei, sagte der russische Geschäftsmann Igor Gretschuschkin der Zeitung "Iswestija". Nach seiner Darstellung begründete der Libanon damals seine Entscheidung mit fehlenden Dokumenten. Außerdem hätten die Behörden Bedenken wegen der Transportbedingungen des gefährlichen Stoffes gehabt. Weil das Schiff nicht habe weiterfahren dürfen, sei sein Geschäft lahmgelegt gewesen. Er habe Strafe zahlen müssen und sei deshalb bankrottgegangen. Er wisse nicht, wer danach für die "Rhosus" verantwortlich gewesen sei. "Der Besitzer hat den Frachter praktisch sich selbst überlassen und sich für bankrott erklärt", sagte dazu der russische Marineexperte Michail Wojtenko dem Moskauer Radiosender Echo Moskwy.
Der russische Frachter-Kapitän Boris Prokoschew sagte der Zeitung, in Beirut habe zusätzliche Fracht abgeholt werden sollen. Weil die Hafensteuer nicht gezahlt worden sei, sei das Schiff festgesetzt worden. In anderen Berichten war auch die Rede davon, dass der Besatzung Treibstoff und Proviant ausgegangen seien. Alle Besatzungsmitglieder hätten das Land verlassen, so Prokoschew.
Was geschah mit der Fracht bis zur Explosion?
Im Juni 2019 leiteten die libanesischen Sicherheitsbehörden eine Untersuchung zur Fracht ein, nachdem wiederholt Informationen über üble Gerüche aus der Lagerhalle eingegangen waren. In ihrem Bericht heißt es, dass der Hangar "gefährliche Materialien enthält, die bewegt werden müssen". Die Ermittler wiesen auch auf Risse an den Wänden des Lagers hin, die einen Einbruch ermöglichten und empfahlen eine Renovierung des Lagers. Die Hafenverwaltung nahm sich schließlich der Arbeiten an. Die Reparaturarbeiten sollen nach Angaben aus Sicherheitskreisen Auslöser für die Explosionskatastrophe gewesen sein.
Warum blieb das Ammoniumnitrat überhaupt in Beirut?
Normalerweise wird die Chemikalie unter strengen Sicherheitsvorkehrungen gelagert: So muss sie etwa von Brennstoffen und Wärmequellen ferngehalten werden. In vielen EU-Ländern muss Ammoniumnitrat zudem mit Kalk versetzt werden, um es sicherer zu machen. Nach den Explosionen veröffentlichte der Zolldirektor Badri Daher einen auf Dezember 2017 datierten Brief, in dem er die Staatsanwaltschaft bat, das Material entweder ins Ausland zu verlagern oder es an ein örtliches Unternehmen zu verkaufen. Der Brief war nach Angaben des Zolldirektors nur einer von vielen, den er wegen des Ammoniumnitrats über die Jahre an die Staatsanwaltschaft geschickt habe.
Laut Riad Kobaisi, einem auf Korruptionsfälle spezialisierten libanesischen Enthüllungsjournalisten, versuchen die Zollbehörden, jegliche Verantwortung von sich zu weisen. Grundsätzlich sei es jedoch verboten, solche Chemikalien ohne Genehmigung überhaupt in den Libanon einzuführen. Für ihn zeige der Fall das Ausmaß der Korruption innerhalb des Zolls, der die Haupt-, aber nicht die ausschließliche Verantwortung für die Tragödie trage.
Quelle: ntv.de, mli/AFP/dpa