Der Appetit kommt beim Essen Die EM steht vor der Tür - freut euch!


Es wäre mal wieder Zeit für ein Sommermärchen!
(Foto: dpa)
Der Kanzler will die Mannschaft in den Erfolg tragen, der DFB-Präsident glaubt ans Sommermärchen 2.0, derweil läuft der Deutschland-Fanartikel-Verkauf noch recht schleppend an. Die Kolumnistin fragt sich, wann sich endlich alle wieder freuen werden.
Wenn Sie an 2006 denken, woran denken Sie dann? Sommermärchen, richtig. Mein Sommermärchen war in diesem Sommer ein halbes Jahr alt, ich war gerade zum wiederholten Male Mutter geworden und eh super drauf. Da kam mir ein weiteres Sommermärchen gerade recht. Die Fußball-WM fand in unserem Land statt, und aus vielen Gründen ballerten wir uns die Herzen der restlichen Welt. Der Kaiser hatte alles gegeben, um das Ereignis in Deutschland anzusiedeln, denn der Beckenbauer Franz sah "Die Welt zu Gast bei Freunden". Herrlich! Über das Wie und Warum und das ganze Gemauschel wurde an anderer Stelle erschöpfend geschrieben, der Kaiser ist inzwischen tot, und ob jemals Licht ins Dunkel der DFB-Machenschaften gelangen wird, darf bezweifelt werden.
Wir wurden nicht Sieger ("nur" Dritter, also Sieger der Herzen), trugen es mit Fassung, waren wirklich großartige Gastgeber und die Welt war einfach nur rund und bunt. Ausländer in unserem Land? You're very welcome!! Es waren ja gute Ausländer, Fußballfans. Die ließen ordentlich Kohle da, freuten sich, feierten, tranken eine Menge Bier, weder protestierten sie noch hatten sie Ansprüche auf Begrüßungs-, Wohn- oder Kleidergeld.
Ich kann mich daran erinnern, wie ich im Auto saß, Höhe Berliner Hauptbahnhof, die Fanmeile fast fußläufig, und von der Arbeit nach Hause wollte, aber nix ging mehr, alles stand still. Dennoch: Keiner hat gemeckert, alle sind aus ihren Autos raus, Handys liefen, Laptops wurden auf Autodächer gestellt, die Straße – eine einzige Fanmeile. Überall her ertönte Jubel. Keiner war sauer. Es war heiß. Fähnchen wehten im lauen Sommerwind. Es war ein anderes Deutschland. Im Nachhinein empfinde ich es fast als unschuldig. Es war auf jeden Fall vor der Syrien-Flüchtlingskrise (2015), vor Corona (2019/2020), vor Russland greift Ukraine an (2014/2022), vor dem 7. Oktober 2023, vor #Sylt (2024).
Kurzes Vergnügen?
Im Moment also die Frage: Warum freut sich jetzt noch keiner? Die EM steht direkt vor der Tür, ein Riesenspektakel im eigenen Land, aber nicht mal richtig eingefleischte, mir bekannte Fußballfans haben auch nur ansatzweise versucht, Karten für die Stadien zu ergattern. Dabei kann ich mich an Männerhorden erinnern, die 2018 singend und Fähnchen-schwenkend nach Russland gefahren, geflogen, gereist sind, um dort ihrer Mannschaft zuzujubeln -ein kurzes Vergnügen (in der Vorrunde gegen Südkorea ausgeschieden), und eine Reise, die ich schon damals nicht verstanden habe. Aber gut, das ist ein anderes Thema, denn fast könnte man ja inzwischen sentimental werden ob der Tatsache, dass das vor sechs Jahren noch ging, nach Russland zu reisen.
Fest steht, in der Zeit des Sommermärchens hatten wir auch Probleme: Irak-Kollaps, Libanon-Krieg, Bushs Wahl-Desaster, Karikaturen-Streit, Vogelgrippe und das Transrapid-Unglück, um nur einige zu nennen. Und ich weiß auch nicht mehr, ob wir bereits vor dem Beginn der WM mit Deutschland-Fähnchen und Schals durch die Gegend gefahren sind, im Autokorso, laut hupend, allein in freudiger Erwartung auf "Tage wie diese" (die aber erst 2012 von den Toten Hosen erfunden wurden).
Sind wir übrigens nicht, also vorher rumgefahren, mit Flaggen und Fähnchen. Das hat sich ergeben, würde ich mal sagen. Im Lauf der Spiele. Es war eine junge Mannschaft, den Bundestrainer haben wir als flotten Kaschmirbotschafter gesehen und nicht als popelnden Typen, der den Kontakt zu seiner Mannschaft in den darauffolgenden Jahren verloren zu haben schien.
Die Industrie war 2006 jedenfalls schnell dabei, immer mehr Fahnen und Tassen, Kugelschreiber, Handtücher, Girlanden und Trikots (meine Kinder und ich trugen Ballack, sogar einen "Deutschland"-Strampelanzug hatten wir fürs Baby) zu produzieren, meine Freundinnen und ich fuhren zu dem Hotel, in dem die deutsche Mannschaft wohnte und wir taten so, als würden wir das nur wegen der Kinder machen.
Schlechte Kindheit gehabt?
Neulich habe ich im Keller altes "Deutschland-Zubehör" gefunden. Es ist auch weiterhin im Keller, ich sehe im Moment gerade nicht, dass ich die Fähnchen an mein Auto schnalle. Ich käme mir komisch vor damit. Es liegt nicht nur an dem Ausgang dieser Europa-Wahl, die belegt, dass nicht nur Deutschland, sondern mehr oder weniger ganz Europa einem krassen Rechtsruck unterliegt. Junge Menschen grölen rechte Parolen, Polizisten werden von Gefährdern umgebracht, und noch immer wird gezögert, ob wir solche Gefährder ausweisen sollten oder nicht, und wir fragen stattdessen lieber nochmal nach, ob der Mann eventuell eine schlechte Kindheit hatte (ich übertreibe).
Es fällt momentan wirklich schwer, das Glas halb voll zu halten. Sie als ntv.de-Leserin und -Leser kennen die Probleme dieser Welt, weil wir Sie täglich darüber informieren. Da bei Laune zu bleiben, fällt schwer: Krieg nebenan, der Israel-Gaza-Konflikt, bei dem es immer härter wird, sich zu positionieren, ohne von der einen oder anderen Seite komplett in Grund und Boden gestampft zu werden, Kinder, die verschwinden, Flüsse, die über die Ufer treten.
Die Herausforderungen an uns, unsere Gesellschaft, in diesen Zeiten, sind riesig. In meiner Kindheit gab es Smog-Alarm, die RAF, Öl-Krisen, noch kein Bio-Obst, keine Gurte hinten im Auto und keine Handys. Ich habe überlebt. Ich war oft glücklich. Ich war sehr zuversichtlich. Auch, weil wir viele Probleme angegangen sind. In der Schule war man in der Antifa-AG, und wenn wir dann an den Unis demonstriert haben, waren wir nicht so dumm, unser eigenes Mobiliar zu zerlegen. Wir waren gegen vieles, haben aber andere nicht an der Ausübung ihrer Tätigkeiten hindern wollen, wir haben keine Kunstwerke beschädigt (außer, Graffiti auf Wänden zählt auch dazu, dann sorry). Wohin hat uns das gebracht, könnte man nun fragen?
Hierher. Genau in diesen Zustand, in dem wir jetzt sind. Haben wir es also verkackt? Eine kleine, nicht repräsentative Umfrage in meinem jüngeren Freundes- und Bekanntenkreis hat ergeben, dass junge Menschen immer noch voller Zuversicht sind. Sich auf ihre Zukunft freuen. Ich bin erleichtert.
TikTok statt ticktack - die Uhr läuft
Ich spreche SIE jetzt dennoch an, weil SIE bitte auf Ihre Kinder aufpassen müssen!! TikTok übernimmt sonst nämlich das Kinderzimmer: AfD-Songs hören sich an wie Ballermann-Gegröle und stramme deutsche Mädels geben Schmink- und Boy-Tipps, und überhaupt haben SIE keine Zeit, weil SIE sich ja um sich kümmern müssen, #endlichselbstoptimierung. Eine Bitte: Schauen Sie mit Ihren Kindern Fußball! Freuen Sie sich über die "Ausländer" in der Mannschaft, schwenken Sie kleine Fähnchen (gern auch in Regenbogenfarben), lassen Sie uns alle gute Gastgeber sein. Haben Sie eine Alternative, wenn Deutschland nicht so weit kommt: Frankreich, Italien, Niederlande (nein, Argentinien geht nicht), und dann kurz darüber sprechen, warum die auch alle so nach rechts geruckt sind.
Kurzer Realismus-Einschub: Das letzte Mal eine EM gewonnen hat ein deutsches Team 1996, die WM 2014. Wird also Zeit. Der Kanzler immerhin ist zuversichtlich und möchte "das Team ins Finale tragen". Hoffentlich nicht persönlich. Und Bernd Neuendorf, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes, glaubt: "So, wie wir es 2006 schon mal gemacht haben, wollen wir es wieder halten."
Die wichtigen Fragen zum Schluss
Bleibt zu klären (drei Tage haben wir noch): Schaffen wir 40.000 oder mehr schottische Fans, von denen die Mehrheit natürlich kein Ticket hat? Haben wir reichlich Bier? Wo sind die Spielerfrauen? Spielt das Wetter mit? Und am wichtigsten: Sind wir bestens gegen Terror jeder Art gefeit?
"Sicherheit hat die oberste Priorität für uns, sowohl für die Länder als auch für den Bund", so Innenministerin Faeser bei der offiziellen Eröffnung des "International Police Cooperation Center" (IPCC). "Wir sind sehr, sehr gut vorbereitet und daher hoffe ich, dass es friedliche, sichere Spiele werden." Sie betont auch: "Wir haben eine abstrakt sehr hohe Gefährdung, aber konkret liegt uns nichts vor." 100 Prozent Sicherheit könne es jedoch leider nicht geben.
Mir ist momentan noch gar nicht so nach feiern, aber: Der Appetit kommt ja bekanntlich beim Essen.
Quelle: ntv.de