Wieduwilts Woche

Nazis, das sind die anderen Sylt: Voller Ausschlag auf dem Empörometer(™)!

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Sich hüpfend mit Fingern ein Hitlerbärtchen unter die Nase zu halten ist sicher geschmacklos, aber der "Führer" wurde so eher nicht gegrüßt.

Sich hüpfend mit Fingern ein Hitlerbärtchen unter die Nase zu halten ist sicher geschmacklos, aber der "Führer" wurde so eher nicht gegrüßt.

(Foto: Screenshot)

Deutschland hat den Rechtsextremismus gefunden: Er trägt Poloshirt und säuft in Kampen. Für einen kurzen Moment ist die Welt eine einfache.

Als professioneller Meiner – und dieses Berufsfeld reicht von Linkedin-Trotteln über Kolumnisten bis hin zum Bundespräsidenten – muss man ein Tagesereignis, auf das gerade eine Aufmerksamkeitsdusche niedergeht, schnell einordnen können: Sollte man sich womöglich schnell mit einer eigenen "Meinung" dazu stellen? Oder ist das Wasser gerade zu heiß?

Das ist ein Job für das Empörometer (™)! Das Empörometer(™) gibt an, ob man sich mit der angepeilten Meinung als Teil einer schützenden Horde begreifen kann oder im Abseits landet. Beispiel: Wenn auf Sylt junge, dumme Schnösel ausländerfeindliche Zeilen grölen, ist das Empörometer auf dem Maximalwert. Hier kann praktisch gar nichts schiefgehen, da kann jeder mitmachen. Und es machte jeder mit.

Man kann geradezu eifersüchtig werden: Meine Partys hat noch nie die komplette Staatsspitze kommentiert, aber die "Champagner-Nazis" bekamen von genau dort einen eingeschenkt: Der Bundespräsident beklagte die "Verrohung politischer Umgangsformen" als hätte da einer ein Schimpfwort auf einer Parteitagsrede benutzt. Die Bundestagspräsidentin Bärbel Bas forderte etwas diffus die "Höchststrafe" und der Bundeskanzler nannte die Gesänge "ekelig".

Oh Gott, LinkedIn

Mehrere Arbeitgeber sprachen Kündigungen aus, die Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW), angetrieben von Studierenden, die sich die singende, tanzende Kommilitonin hinfort wünschten, verhängte ein Hausverbot und prüft eine Zwangsexmatrikulation. Inzwischen haben mehrere Veranstalter den missbrauchten Hit von Gigi d'Agostino verbannt. Den Deutschen ist offenbar nicht mehr über den Weg zu trauen.

Und dann, oh Gott, der schlimmste aller digitalen Orte, LinkedIn: Dort teilten viele ganz besoffen vor Selbstrührung mit, wie ganz und gar falsch die Tanzdeppen in Kampen sich verhalten hätten, wie erschüttert, nein: schockiert, nein: entsetzt, nein: traurig man angesichts dieser epochalen Entgleisung sei. Wer da nicht liked, kann die Karriereleiter gleich wieder in den Keller tragen!

Es war, um es mit dem Kanzler zu sagen, ekelig. Doch offenbar haben die Schampus-Nazis da ein Ventil aufgedreht. Überraschen dürfte einen die Debatte nicht: Die Deutschen waren schon immer gut darin, die Schuld bei anderen zu verorten: Bei den Deutschen von gestern, bei den Deutschen im Osten, bei den abgehängten Deutschen. Jetzt sind es die Schnösel von Kampen. Die Nazis, das sind die anderen. Die Tapferen, das sind wir.

"Wir könnten alle Privatdetektive sein"

"Deswegen liebe ich Social Media", schreibt eine Frau auf Tiktok, "in weniger als 24 Stunden alle Personen von dem Sylt Video herausgefunden. Wir könnten alle Privatdetektive werden." Man hört recht wenig von Datenschützern, in diesen Tagen – aber man kann sich ja wirklich nicht um alles kümmern.

Die Selbstgewissheit der Gesten und manche Einordnungen von Juristen passen allerdings nicht recht zum tatsächlichen Unrechtsgehalt. Die Staatsanwaltschaft Flensburg bestätigte ein Ermittlungsverfahren. Die gesungenen Parolen seien strafbewehrt, "allein schon mit Blick auf das jüngste Urteil gegen Björn Höcke", was auch immer das damit zu tun hat. Ob irgendetwas von dem Geschehen in Kampen strafbar war, ist längst nicht ausgemacht. "Ausländer raus" ist widerwärtig, aber strafbar nur unter besonderen Umständen. Sich hüpfend mit Fingern ein Hitlerbärtchen unter die Nase zu halten ist geschmacklos, aber so hat meines Wissens niemand den Führer gegrüßt – und wenn, dann nur einmal. Nicht einmal die Kündigungen stehen auf festem Grund.

Für was steht der Sylt-Vorfall denn wirklich? Für abstoßenden Überlegenheitsgestus, mangelnde Bildung, Verachtung, Wohlstandsverwahrlosung, Verrohung, Trotz, womöglich auch für Erinnerungsmüdigkeit, also allerlei charakterliche Defizite. Auch für Rechtsextremismus? Wir wissen es derzeit schlicht nicht. Vielleicht macht, wer so etwas singt, wirklich mit sardonischem Lächeln sein Kreuz bei einer rechtsextremen Partei.

Bundesrepublikanische Rudeldresche

Vielleicht auch nicht. Die Kultur der "Meme", also grob gesagt der visuellen Witze im Internet, ist komplex, wandelt sich und ist in seinen ironischen Brechungen von außen schwer zugänglich. Man kann natürlich sagen: Wer "Ausländer raus" brüllt, muss sich an diesen Worten festhalten lassen, "Meme" hin oder her. Dass man es sich damit womöglich zu einfach macht, zeigt, dass deutsch-türkische Fußballfans von Galatasaray Istanbul dieses "Lied" ebenfalls brüllten, von anderen Feiernden in Deutschland ganz abgesehen.

Es gehört zur Ironie dieses Vorfalls, dass er mit Hordendynamik begann, nämlich dem hirnlosen, tiktok-befeuerten Mitgrölen einer nazifizierten Version eines Liebeslieds, und mit Hordendynamik endete, nämlich einer beispiellosen bundesrepublikanischen Rudeldresche. Horde, das können wir in Deutschland! Ganz womöglich ging es um etwas Banaleres: Antipathie für Sylt und seine Schnösel.

Das Empörometer(™) gibt auch Auskunft, wenn ein Debattenbeitrag eher nicht opportun ist. So steigt es kaum, wenn ein Tabubruch nicht von leicht verscheuchbaren Lackaffen auf Sylt begangen wird, sondern von potenziell gewaltbereiten Milieus. Hier ist Abwarten angesagt! An Berliner Hochschulen ist daher im Vergleich zu Sylt ein gewisser Gleichmut zu besichtigen.

Lieber Ausländer in Kampen als Jude in Berlin?

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Da lässt die Präsidentin der HU einen antisemitischen Mob in den eigenen Räumlichkeiten randalieren und Zielmarkierungen der Hamas (rote Dreiecke) an die Wände malen, bis sich die schwarz-rote Landesregierung zur Räumung durchringt. Die TU Berlin wird noch immer geleitet von einer Frau, die auf X ein Bild mit "gefällt mir" markierte, das den israelischen Präsidenten Netanjahu neben einem Hakenkreuz zeigt, und einen weiteren Beitrag, in dem Israel eines Genozids bezichtigt wird. Sie hat alles gelöscht und sich entschuldigt.

Dennoch: Man fragt sich, wer gefährlicher lebt, ein Ausländer in Kampen oder ein Jude an Berliner Unis. Zu den Vorfällen an den Universitäten hat sich der Bundespräsident nach kurzem Blick aufs Empörometer nicht eingeschaltet. Man hörte ihn auch nicht, als jüngst auf dem Alexanderplatz jemand brüllte, Allah möge alle Israelunterstützer vernichten. Vielleicht möchte Steinmeier schlicht kein rotes Dreieck auf seinem Schloss sehen, das sähe auch ziemlich schlecht aus – um nicht zu sagen ekelig.

Quelle: ntv.de

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