
An mehreren Hochschulen in Deutschland war es zuletzt zu Protesten gegen das Vorgehen der israelischen Armee im Gazastreifen gekommen.
(Foto: dpa)
Es geht ein schlimmes Virus um. Vielleicht könnte man es "Virus putineskus" oder so nennen. Die Kolumnistin ist weder naiv noch gutgläubig. Sie ist eher eine knallharte Type, aber eben auch "harte Schale weicher Kern". Wunderte sie sich bisher über vieles, zweifelt sie nun. Verzweifelt ist sie aber nicht. Sie hat Hoffnung. Naiv, oder?
"Haben sie dir ins Gehirn geschi**n", fragte man früher ja schnell mal als sprücheklopfender Teenager, wenn einem wirklich gar nichts mehr einfiel zu dem Schwachsinn, den manche von sich gegeben haben. Und so fühlt es sich nun wieder an: Als hätte man ganz vielen Leute ins Gehirn gesch** ... naja, wenn sie überhaupt eines haben. Denn es geht ein Virus um, und es heißt nicht Covid, pffht. Es ist das Virus des Hasses. Der Blindheit, des nicht Zuhören-Könnens. Nicht Zuhören-Wollens. Das Virus der Kaltschnäuzigkeit.
Es fängt an im Straßenverkehr, äußert sich in großer Rücksichtslosigkeit – mit Schreien, Hupen, Pöbeln – und es geht bis zu einem Diktator, der die Barmherzigkeit predigt und gleichzeitig Gläubige bei orthodoxen Feierlichkeiten abknallen lässt. Das Virus geht um unter Lehrern, die ihre Schülerinnen nicht mehr sehen, nicht erkennen, leiten wollen, nur noch an ihren Ruhestand und ihr Wohnmobil denken können. Es geht um unter Schülern, die ihre Lehrkräfte und Mitschüler dissen, es befällt Leute, die sich im Supermarkt oder beim Eintritt in ein Konzert vordrängeln. Es befällt Alte, die die Jungen nicht mehr verstehen wollen, Junge, die die Alten nicht respektieren. Und es endet bei Studierenden - der zukünftigen Elite eines Landes - die anderen, andersgläubigen, anders aussehenden Studierenden verwehren wollen, den Raum, die Uni, das Wissen mit ihnen zu teilen.
Keule drüber, tot, weitermachen
Darüber komme ich tatsächlich nicht hinweg: Studentinnen und Studenten, klug, überwiegend in Sicherheit und Wohlstand aufgewachsen, nehmen sich heraus, anderen, im momentanen Fall jüdischen Studenten, den Zutritt zu ihrer Universität zu verwehren. Unter anderem in New York, in Los Angeles, in Paris und Berlin, bisherigen Hochburgen der Liberalität. Sie schreien sie an, schlagen sie, verletzen sie, psychisch und physisch. Dabei sollten sie alle an einem Strang ziehen. Die Gründe mögen nachvollziehbar sein, aber kommen wir so weiter? Es erscheint mir doch eher wie das tiefste Mittelalter. Oder wie im Neandertal: Keule über'n Kopf, tot, drübertrampeln oder aufessen.
Was ist nur passiert? Seit wann bringen Aktionen wie diese die Menschheit weiter? Ich zweifle ernsthaft an der Menschheit. Viele halten es ja für naiv, zu zweifeln. Geradezu für dumm, wenn man an das Gute glaubt. Ich habe das getan. Geglaubt, dass man keine Wehrpflicht mehr braucht, dass Atomkraftwerke durch Windräder ersetzt werden können (dagegen formiert sich natürlich auch Widerstand, schon klar), oder Sonnenenergie. Ich dachte immer, aus Fehlern lernt man. Ich dachte, es wäre klug, niemals die Menschen und die Ideologien zu vermischen. Denn das ist der größte Fehler, den man machen kann.
Erfundene Wahrheit
Let's face it: Nicht alle Israelis sind nette Menschen, aber der 7. Oktober, an dem friedliche Musikliebhaber abgeschlachtet, entführt, vergewaltigt und gequält wurden, macht nicht wett, dass Palästinenser unter Israelis leiden mussten und müssen. Israelis lieben ihre Kinder, Palästinenser lieben ihre Kinder, und die meisten wollen in Frieden und Freiheit leben - einigen Menschen das nicht zuzugestehen, ist fatal. Man macht aber, wie gesagt, kein Verbrechen durch ein neues Verbrechen besser. Und es ist ein Fehler, den nicht nur junge Leute gerade begehen: Gerade die ältere Generation müsste wissen, dass es nichts bringt, die Dinge zu vermischen. Oder zu verwechseln.
Deutsche sind nicht per se Nazis, nicht alle Russen lieben Putin. Und Netanjahu wird von vielen Israelis verachtet. Es ist geradezu idiotisch, die politische Linie Netanjahus und die jüdische Bevölkerung in einen Topf zu werfen. Es sind immer Extremisten, auf allen Seiten, die versuchen, Menschen zu manipulieren, und eine Wahrheit zu kreieren, die es so gar nicht gibt.
Kommt Ihnen bekannt vor? Dann haben Sie mein Interview letzte Woche mit Jean-Michel Jarre gelesen, danke dafür. Das Ding ist – man kann es nicht oft genug wiederholen – wann fangen wir endlich an, unser Gehirn einzuschalten? Wenn ich höre, oder lese, in den Nachrichten, dass Schweden sich kriegsbereit macht, dass wir darüber sprechen, ob und wie wir uns überhaupt verteidigen könnten, dann wird mir angst und bange. Wenn wir mit unseren Kindern darüber sprechen müssen, ob die Bundeswehr nicht auch eine Alternative zur Tischler-Ausbildung oder zum Medizin-Studium wäre, dann halte ich mich übrigens nicht für naiv oder einen Versager. Dann halte ich mich nur für eine Zweiflerin. Und dann wünsche ich mir, dass mehr Leute zweifeln würden. Nicht verzweifeln, aber Zweifel an einer Sache zu haben, könnte einen voranbringen. Mit Menschenverstand, mit Bauchgefühl, mit – sagen wir es gemeinsam – "Gehirn".
Ich möchte, dass meine Kinder an der FU studieren und nicht gegen andere Studenten protestieren. Wenn sie protestieren, dann gegen langweilige Lehrpläne oder sexistische Professorinnen und Professoren. Gegen Krieg, für das Klima und für mehr Transparenz. Für Chancengleichheit. Aber doch nicht gegen andersgläubige, anders aussehende, andersdenkende Mitmenschen. Und schon gar nicht auf diese verbitterte Art und Weise. Herr Lauterbach, wir müssen impfen!! Gegen ein neues Virus, das ein altes ist und immer wieder aus irgendwelchen Löchern gekrochen kommt. Weder Fledermäuse noch China können dieses Mal etwas dafür.
Quelle: ntv.de