Eine Fahrt in den Frieden Gibt es Glück im Unglück auf der Flucht?
22.11.2023, 18:27 Uhr
Artikel anhören
Und Madalina bleibt zurück ...
(Foto: privat)
Darf man sich freuen, wenn Menschen aus ihrer Heimat flüchten? Darf man froh sein, wenn ein weinender Vater seine Tochter umarmt, ohne zu wissen, ob er sie je wiedersieht? Unser Autor findet: Ja. Denn nach zwei Monaten Pause startete dank "Be an Angel" endlich wieder ein Evakuierungsbus aus der Ukraine nach Deutschland.
Und, kann man sich nun darüber freuen? Ja, man kann. Für jeden einzelnen dieser 55 Menschen, der am Sonntagmorgen auf eine Reise in den Frieden ging. Am 4. März 2022 sind wir angetreten, Ukrainerinnen und -Ukrainern die Flucht nach Deutschland zu ermöglichen. Seitdem hat sich der Verein und das gesamte Team quasi in ein Reisebüro der besonderen Art entwickelt. Die Logistik hinter einer Bus-Evakuierung ist nervenaufreibend - so auch dieses Mal. Der erste Schritt ist der grausamste: Wir müssen aus der aktuellen Liste von 360 Menschen, meist Frauen und Müttern, die aus Frontgebieten evakuiert werden wollen, auswählen, wer mit darf. Ach ja: evakuiert werden wollen? Nein, sie müssen.
Eine Option wäre, innerhalb der Ukraine zu flüchten. In Gebiete, die halbwegs sicher sind. Denn jeder von uns weiß: Es gibt keinen sicheren Ort in der Ukraine. Die Großstädte werden regelmäßig angegriffen. Und selbst auf dem Land ist man vor Raketen nicht sicher. Ganz besonders betroffen sind ländliche Regionen, die russisch besetzt waren. Bei Fahrten dorthin wurde ich beinahe gewaltsam daran gehindert, aus dem Auto zu steigen: "Hier sind überall Minen. Geh genau hinter uns her!", werde ich fast angebrüllt. Es gibt ein bisschen Sicherheit, den Ortskundigen zu folgen, die zerfetzten Tierkadaver auf den Wegen und auf den Feldern sprechen ihre eigene Sprache. Ein Zentimeter nach rechts und es kann für immer vorbei sein. Genau aus diesen Gebieten kommen die Menschen, die jetzt im ersten Schritt nach Odessa geflüchtet sind. Und kennt man die Lebensumstände der Menschen, die innerhalb der Ukraine geflüchtet sind, dann weiß man, dass es eigentlich keine Option ist.
Halbwegs sicher vor Bomben
Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich von Ihrem Kind verabschieden. Vielleicht für immer ... weil Sie in den Krieg müssen!
(Foto: privat)
Besuch in einer Kellerwohnung ohne Bad: Die Unterkunft für Familien aus den Frontgebieten ist im Souterrain. Die Kellertreppe führt in einen engen, kleinen Flur, von dem drei Zimmer abgehen. Das Licht in den Zimmern kommt durch eine Luke und man sieht auf die Füße der Passanten, die am Haus vorbeigehen. In jedem Zimmer drei Stockbetten für sechs Personen. Tatsächlich schlafen in jedem Zimmer mindestens zehn Menschen. Mütter teilen sich mit ihren kleinen Kindern ein Bett. Die Notunterkunft hat Vitali ins Leben gerufen. Eigentlich ist er Gastronom. Von Menschen wie ihm hängt ab, ob Flüchtlinge überhaupt noch irgendwo ein Obdach kriegen. Wer keine Verwandten in Großstädten hat, wer keine Freunde hat, die einen aufnehmen, der hat Pech. Jobs, um sich den Lebensunterhalt selbst zu verdienen, gibt es kaum mehr. Die Inflation schießt durch die Decke. So was wie einen Alltag mit Restaurantbesuch können sich nur noch die wenigsten leisten. Immerhin war man im Souterrain in Odessa eine Zeit lang halbwegs sicher vor Bombeneinschlägen. Auch das hat sich geändert.
Anderthalb Jahre gab es zwar regelmäßig Angriffe und Luftalarm, aber die Raketen schlugen in der Regel nur im Hafen, im Bereich des Flughafens und in den Außenbezirken ein. Als das Getreideabkommen, das aus dem Hafen von Odessa den Rest der Welt mit Nahrungsmitteln versorgt hat, einseitig von Russland beendet wurde, änderte sich auch die russische Kriegsführung. Das Getreideabkommen lief aus und zwölf Stunden später wurde eine Kathedrale in der Innenstadt von Odessa in Schutt und Asche gelegt. In der Seitenstraße der Wohnung, die ich bewohnt habe, sind zwei Gebäude zerstört worden. Es ging durch die Presse. An der Kriegsführung hat sich nichts geändert.
House of Hope
Letzte Woche ist ein Hotel-Hochhaus am Ende der Potemkinschen Treppe getroffen worden. Was also tun im Souterrain in Odessa? Den Weg in die Sicherheit suchen. Evakuierungsprogramme gibt es im Süden der Ukraine so gut wie gar nicht mehr. Die finanziellen Möglichkeiten von Menschen, die ins Ausland flüchten wollen, sind, vorsichtig ausgedrückt, begrenzt.
Von der Front über Odessa nach Moldau. Die Gruppe vor der Abreise nach München. Madalina von Be an Angel Moldau (vorn l.) koordiniert.
(Foto: privat)
Obwohl man in einen Minibus nach Moldawien steigen könnte und von dort weiter in die EU. Das allerdings ist ein riesiger Schritt und mit kleinen Kindern und ein paar Habseligkeiten für Mütter eine echte Herkules-Aufgabe. Zumal in Moldawien die Unterkünfte für geflüchtete Ukrainerinnen sehr begrenzt zur Verfügung stehen. Eine dieser Unterkünfte ist das House of Hope: 160 Menschen, zumeist Frauen und Kinder, leben aktuell dort. Finanziert wird das ganze über die Konvoi gGmbH - eine deutsche gGmbH, die sich in Moldawien engagiert. Und deren Team in Moldawien mehr als glücklich ist, wenn ein Bus vorfährt, um Bewohnerinnen abzuholen.
Der erste Schritt war also, die Menschen aus Odessa bis nach Moldawien zu bringen. Dort gab es dann die Übernachtung im House of Hope. Und zusammen mit einigen anderen, die dort schon länger sind, ging die Reise am besagten Sonntagmorgen in Richtung München. Dafür war wieder unser Einsatz gefragt.
Bis Mitte letzten Jahres hat es den sogenannten Königsteiner Schlüssel gegeben. Alle Bundesländer haben beim Bundesamt für Migration (BAMF) ihre Kapazitäten für die Aufnahme von Flüchtlingen gemeldet. Von den Bundesländern aus freiwillig. Als Erstes stieg Bayern aus. Es folgten weitere Bundesländer. Für uns bedeutet das, dass wir nicht mehr einfach über das BAMF anfragen können, wohin wir die Menschen bringen dürfen. Wir müssen in jedem Bundesland einzeln prüfen, ob es überhaupt noch Aufnahmekapazitäten gibt. In diesem Fall war es München, das sich bereit erklärt hat, 55 Menschen aufzunehmen.
Chance auf Karriere?
Migration ist aktuell ein heiß diskutiertes Thema. Aus unserer Warte wenig lösungsorientiert und leider auch unter falschen Voraussetzungen seitens der politischen Akteure. Laut einer Umfrage des schon beschriebenen BAMF wollen 78 Prozent der Ukrainerinnen so bald wie möglich wieder nach Hause. Sie sehen Deutschland als eine Zwischenstation bis zum gewonnenen Krieg an.
Dass jemand, der sich hier gar nicht niederlassen will, wenig Interesse daran hat, eine berufliche Karriere zu starten, ergibt sich von selbst. Dass alleinerziehende Mütter bei unzureichender Kinderversorgung in der Regel selbst als Deutsche kaum eine Chance auf Karriere haben, ist bekannt. Wie also soll eine ukrainische Mutter, die in einem Land ankommt, dessen Sprache sie in der Regel nicht beherrscht, hier eine berufliche Zukunft starten? Antwort: gar nicht!
Diejenigen, die sich hier ein Leben aufbauen, kommen in der Regel aus arabischen oder afrikanischen Staaten. Es würde bei diesen Menschen das sogenannte "Spurwechsel-Gesetz" greifen, das kurz gefasst besagt: Wenn jemand Ausbildung oder Arbeit hat, kommt er aus dem Asylverfahren raus. Umgesetzt wird davon wenig. Ganz im Gegenteil sind Arbeitsverbote für Menschen im Asylverfahren gesetzlich vorgeschrieben. Egal, wie lange dieses Asylverfahren dauert.
Wir kennen Fälle, in denen nach sieben Jahren ein Aufenthaltstitel erteilt wurde. Der Mensch war also sieben Jahre legal in Deutschland, durfte aber nicht arbeiten. Kleines Rechenbeispiel: das kostet den Steuerzahler in der Regel 2500 Euro im Monat. Zwölf Monate mal sieben Jahre: 210.000 Euro.
Svetlana, mehr als eine Babuschka
Aber zurück zum eigentlichen Thema. Und warum wir uns freuen: Bis dato haben wir nachweislich über 19.000 Menschen evakuiert. Eine sehr abstrakte Zahl, unter der man sich eigentlich nichts vorstellen kann. Darum die Geschichte einer der Reisenden im Bus, Svetlana, Oma von zwei bezaubernden Kindern: Ivan, dessen Traum es ist, Boxer zu werden, und Hanna. Der Vater der Kinder verließ vor der Geburt die Mutter. Der Mutter wurde - aus Gründen - die elterlichen Rechte entzogen. Danach wurden die Kinder in ein Waisenhaus gegeben. Oma Svetlana verbrachte Monate damit, sie dort herauszuholen.
Und dies, als sie gerade den eigenen Mann im Krieg verloren hatte. Er wurde getötet. Sie schlief tagelang in der Nähe des Fensters des Waisenhauses, nur um ihre Enkelkinder zu sehen. Es gelang ihr schließlich, das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen, doch drei Tage, nachdem die drei zusammengezogen sind, schlug eine Bombe in ihr Haus ein. Ihre Enkelkinder sind Svetlanas Grund, weiterzumachen. Sie entschied sich für einen Neuanfang und für eine Zukunft ihrer Enkel - deswegen entschied sich Svetlana für Deutschland.
Ein Einzelschicksal. Oder doch nicht? Jeder, der es schafft, aus dem Krieg zu fliehen, bringt seine Geschichte mit. Diese Geschichten, diese Biografien sind sehr, sehr unterschiedlich. Einige sind für uns nachvollziehbar, andere stellen uns vor große Fragen. Warum sich jemand in seinem Leben nicht anders entschieden hat, ist eine. Es obliegt nicht uns, das zu beurteilen, das wäre vermessen. Es liegt an uns, den Menschen Hoffnung zu geben, ihr eigenes Leben wieder in die eigenen Hände nehmen zu können. Und selbst, wenn Deutschland nur ein Zwischenstopp ist für eine hoffentlich baldige friedliche Ukraine als Heimat.
Ja, Migration nach Deutschland ist ein unglaublich herausforderndes Thema. Ja, es stellt Deutschland und damit jeden von uns vor einige Herausforderungen. Im Vergleich zu dem, was Menschen durchmachen mussten, bis sie überhaupt hier ankommen konnten, ist das - in aller Offenheit - nichts. Ja, wir dürfen uns erlauben, von den hier ankommenden Menschen zu fordern, sich mit unserer Heimat auseinanderzusetzen. Und wir dürfen uns erlauben, von jedem, der hier ankommt, zu erwarten, dass er sich im Rahmen seiner Möglichkeiten in Deutschland integriert - bestenfalls etwas beiträgt. Was wir uns nicht erlauben dürfen, ist nachzulassen, Menschen die Möglichkeit zu geben, in Sicherheit zu sein. Umgekehrt wäre das nicht anders. Denn das Glück, in Frieden zu leben, ist ein zerbrechliches.
Quelle: ntv.de