Panorama

Ein halbes Jahr nach der Flut Im Ahrtal ist vieles noch provisorisch

Fabricia Karutz auf dem Weg zu ihrem Elternhaus in Mayschoß - kurz nach dem Jahrhunderthochwasser und ein halbes Jahr danach.

Fabricia Karutz auf dem Weg zu ihrem Elternhaus in Mayschoß - kurz nach dem Jahrhunderthochwasser und ein halbes Jahr danach.

(Foto: privat)

Das Jahrhunderthochwasser 2021 vor sechs Monaten ist eine der schlimmsten Naturkatastrophen, die es in Deutschland je gegeben hat. Mehr als 180 Menschen sterben, Tausende Menschen geraten in Not. ntv-Reporterin Fabricia Karutz gehört zu ihnen.

Gabi Gasper liebt es, durch Altenburg zu radeln. Daran hat auch die Flut nichts geändert. Ihr Fahrrad haben Helfer aus dem Schlamm gerettet und es wieder sauber und fit gemacht. Gabi bremst, als sie mich sieht. Unsere Familien kennen sich schon lange. Zusammen gehen wir durch ihr zerstörtes Dorf. "Geht es dir jetzt besser als kurz nach der Flut?", frage ich sie. Gabi schüttelt den Kopf: "Nein, mir geht's aktuell schlechter als kurz nach dem Hochwasser. Wir zittern um unser Haus. Anfangs war man beschäftigt mit Schlamm schleppen und entkernen. Jetzt trocknet es vor sich hin und wir wissen nicht, ob unser Haus stehen bleiben kann."

Gabi schiebt ihr Rad durch die verwaisten Straßen, etwa 90 Prozent der Häuser in Altenburg sind durch das Hochwasser unbewohnbar. Wir blicken auf eine Häuserfront. "Das Haus wird noch abgerissen, und das auch und das auch!", zeigt sie mir wehmütig.

Von außen sieht man Gabis Haus die Hochwasser-Nacht nicht an: Die Backstein-Fassade wirkt unberührt, weihnachtliche Deko steht noch auf dem Fensterbrett. Doch der Schein trügt. Innen: Rohbau - und ein beißender Geruch. Im Wasser schwimmendes Heizöl hat die Wände getränkt. Regelmäßig führt das Ehepaar Gasper Schadstoffmessungen durch, doch bislang kann ihnen kein Experte genau sagen, ab wann von einer Gefahr für die Gesundheit ausgegangen werden und das Haus abgerissen werden muss.

Neue Zeitrechnung nach dem Überleben

Die Trümmer sind inzwischen weggeräumt.

Die Trümmer sind inzwischen weggeräumt.

(Foto: privat)

Als am Abend des 14. Julis das Wasser immer weiter stieg, versuchten Gabi und ihr Mann, alles Wichtige zu retten. Zuletzt deponierten sie das Album mit Bildern ihres viel zu früh verstorbenen Sohnes auf dem höchsten Schrank im Obergeschoss, damit sie wenigstens noch Fotos von ihrem Kind haben. Und dann stiegen sie auf die Fensterbank. "Dort blieben wir dann die halbe Nacht stehen, einen Holzstamm umklammert, für den Fall das wir schwimmen müssen. Ich hab' noch nicht mal das Seepferdchen." Doch sie mussten nicht schwimmen. Das Wasser reichte ihnen "nur" bis zur Hüfte. "Verfolgt dich diese Nacht?", frage ich Gabi. "Nein", sagt sie, "ich träume noch nicht mal davon..." Nach einer Pause fügt Gabi mit Blick in die Ferne hinzu: "Wir leben...!"

180 Menschen hat diese Nacht den Tod gebracht. Allein im Ahrtal waren es 135 Leben, die ausgelöscht wurden. Für die, die überlebt haben, hat eine neue Zeitrechnung begonnen: vor der Flut und nach der Flut. Fast nichts ist hier mehr wie es war, seitdem das Ahrtal nicht mehr in erster Linie dafür bekannt ist, eine idyllische Weinanbauregion zu sein. Jetzt ist es immer auch Katastrophengebiet.

Riesiges Wiederaufbauprojekt

In Altenahr mussten ebenfalls viele vom Hochwasser betroffene Häuser abgerissen werden. Die Gebäude, die stehen bleiben konnten, sind inzwischen in den Rohbau-Zustand versetzt und brauchen nun Zeit zum Trocknen.

Ein halbes Jahr zuvor: Mein Heimatort Mayschoß ist durch das Hochwasser von der Außenwelt abgeschnitten. Dort wo einst die Hauptverkehrsstraße lang führte, klafft ein acht Meter tiefer Krater, gefüllt mit Wasser. Die Kraft der Naturgewalt hat die Zufahrtsstraße weggesprengt. Wir versuchen uns zu meinem Elternhaus durchzuschlagen, doch der Weg dorthin ist begraben unter Trümmern und Treibgut. Wir fühlen uns wie auf einem anderen Planeten. Für meinen Job als Reporterin habe ich aus einigen Krisengebiete berichtet. Diesmal bin ich selbst betroffen und habe nicht geplant, eine Reportage zu drehen. Doch als wir die enorme Zerstörung sehen, wird mir klar: Diese unfassbaren Bilder müssen wir festhalten.

Heute ist der meiste Schutt weggebaggert, die Straßen verfüllt. Vieles im Ahrtal ist noch recht provisorisch, alle paar Meter fährt man durch Baustellen und tiefe Schlaglöcher. Viel mehr ist dank der überwältigenden Hilfs- und Spendenbereitschaft geschafft worden, als die Betroffenen jemals zu hoffen gewagt hätten. Aber auch heute, ein halbes Jahr nach der Katastrophe, steht das Ahrtal noch vor riesigen Herausforderungen. Die Flut hat Menschen traumatisiert und Schäden in Milliardenhöhe zurückgelassen. Jeden Tag aufs Neue befinden wir uns mitten im größten Wiederaufbauprojekt, das es seit dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland je gegeben hat.

Die 20-minütige-Reportage "Ahrtal - so geht es den Menschen heute" sehen Sie am Samstag 15.01., um 08:30 Uhr bei ntv oder jederzeit online auf RTL+.

Quelle: ntv.de

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