Abseits vom LouvreIntime fotografische Einblicke in Paris
Juliane Rohr
Intime Einblicke, surreale Kompositionen, eingefrorene Geschichte, Momente der Stärke und Verletzlichkeit. Die "Paris Photo" zeigt das in allen Nuancen – von Vintage Print bis zu KI-generierten Arbeiten.
Narben in Gesichtern, Häusertrümmer, verwundete Tiere und kaputte Landschaften - eine Installation aus knapp sechzig Werken hat den ersten Blick des Publikums auf die Spuren einer disruptiven Welt gelenkt. Entrinnen unmöglich, die Wand versperrte mit vierzig Metern den Blick auf Anderes. Leichtfüßigeres. Auf der 28. Ausgabe der "Paris Photo" hat die Fotografin Sophie Ristelhueber die menschlichen Auswirkungen des Krieges verdeutlicht. Mit dieser dokumentarischen Arbeit setzt sie über die Messe hinaus ein politisches Statement. Und weist auf die Wichtigkeit ihrer Reportagearbeit hin.
Die Bilder dieser gerade mit dem wichtigen Hasselblad Award ausgezeichneten Französin konnte jeder erwerben. Es ist dieser Spannungsbogen zwischen Museum und Kommerz, der jedes Jahr Neugierige und Enthusiasten gleichermaßen ins Grand Palais an die Seine unweit des Eiffelturms zieht. Am letzten Wochenende ist in Paris die größte Fotomesse der Welt zu Ende gegangen.
Die Themen: gut gemischt, nicht unbedingt politisch, mit Werken aus den Anfängen der Fotografie bis zu den neuesten KI–Entwicklungen. Unter der vor 125 Jahren für die Weltausstellung gebauten Glaskuppel hatten sich 178 Galerien aus 33 Ländern und 43 Verlage mit aufregenden Fotobüchern versammelt. Denn besonders intensiv kann man dem vielfältigen Thema auch zwischen zwei Buchdeckeln nachspüren.
Finnland
Oder eben auf dieser Messe, die von zwei Frauen, Florence Bourgeois und Anna Planas, geführt wird. Fast 40 Prozent der gezeigten Arbeiten stammten dieses Mal von Fotografinnen, im sogenannten Nachwuchssektor waren es üppige 70 Prozent. Zum Beispiel Emma Sarpaniemi: Spielerisch setzt die finnische Künstlerin sich mit der Selbstdarstellung von Frauen auseinander und bringt Leben in das Sujet Selbstporträt. Dafür schlüpft sie in auf Flohmärkten gekaufte Kleidung, ergänzt gefundene Objekte und porträtiert sich dann. Mit dieser performativen Fotoserie verwebt sie geschickt die eigene Identität mit Fantasie und Realität. Das ist komisch, zärtlich und entwaffnend ehrlich.
Andy Warhol durfte als Ikone auf dem Marktplatz in Paris nicht fehlen: Überlebensgroß lockte er mit seiner Kamera vorm Gesicht an einen Messestand. Einige Kojen weiter buhlten riesige, fotohistorisch bedeutende Werke um die Aufmerksamkeit. Erst auf den zweiten Blick zeigte sich – alles von KI generiert. Fragen, die hängen bleiben: Wie füllt unsere Erinnerung die Lücken zwischen dem, was wir wirklich sehen und was wir zu erkennen glauben? Und: Ist der Irrtum leichter zu finden als die Wahrheit?
New York
Authentizität pur hingegen strahlt die Serie "Spanish Harlem" von Joseph Rodriquez aus. Dollarscheine liegen neben Heroin. Stadtansichten vom nächtlichen New York wecken Reiselust. Der 1951 in New York geborene Rodriguez beschwört mit seinen Fotos den Gemeinschafts- und Familiengeist in einem Viertel, in dem Gewalt und Kriminalität alltäglich waren. In den 1980er Jahren war dieser Teil New Yorks eigentlich nur Insidern oder direkten Anwohnern zugänglich. Das macht den Fotografen, der dort Zugang hatte, zu einem glaubhaften Chronisten dieser Zeit.
Canal du Midi
Zu den poetischsten Beiträgen der Messe zählte die gut durchdachte Schau von Raphaëlle Peria und Fanny Robin am Ende der Halle: Beide sind Gewinnerinnen des BMW-Art-Makers Programmes. Mit Ausstellungen sowohl auf der "Paris Photo" als auch auf dem Fotofestival in Arles wird dem Künstler-Kuratoren-Duo besondere Sichtbarkeit verschafft. Was bei Peria als Kindheits-Erinnerung an Sommertage mit den Schwestern auf dem Canal du Midi daherkommt, entpuppt sich als Geschichte vom Verschwinden einer Landschaft. Der Klimawandel ist übrigens ausnahmsweise mal nicht Schuld: Die Platanen entlang des Wasserlaufs sind von einer Art Krebs befallen und müssen daher seit Jahren radikal gefällt werden. Die Geschichte begann bereits im zweiten Weltkrieg, als in amerikanischen Munitionskisten unbemerkt ein kleiner Pilz eingeschleppt wurde. Dieser Fiesling aus dem Südosten der USA ist seit Jahren für das Sterben der Bäume verantwortlich und verändert damit den Canal du Midi nachhaltig.
Raphaëlle Peria erzählt ntv.de, warum sie die Abzüge ihrer Familienfotos auf Kupferblättern druckt - weil sich das befallene Gehölz irgendwann wie Kupfer einfärben würde und "nicht weil es hübsch aussieht, sondern um an diese Krankheit zu erinnern." Teil ihrer künstlerischen Praxis ist, dass sie bestimmte Teile der Bäume mit einer Art Skalpell vom Papier abkratzt. Anstelle der Blätter hängen dann dünne weiße Fetzen an dem Bild. Der Effekt ist ein besonderer Hingucker.
Japan
Als Reiseziel ist Japan derzeit sehr en vogue. Auf der "Paris Photo" spielt japanische Fotografie seit langem eine große Rolle, und die dort ansässigen Galerien reisen gerne nach Paris. Spannend waren die Positionen der Fotografinnen: Sie verdeutlichten, dass es Frauen auf dem japanischen Arbeitsmarkt, in der Politik und in der Gesellschaft schwerer haben als Männer. In der japanischen Fotografie werden Frauen häufig als Subjekt dargestellt, getreu dem patriarchalischen Blick. Dem Gedanken an ein veraltetes konservatives Rollenbild stellen sich die Fotografinnen mit ihrer Arbeit entgegen.
Das Medium Fotografie ist durch die stetig wachsenden Möglichkeiten, die sich mit Künstlicher Intelligenz bieten, zunehmend gefährdet: Das Urheberrecht ist in Bedrängnis, die Authentizität in Frage gestellt. Was ist echt, was nicht? Finden wir die Fehler, wie beispielsweise sechs Finger an einer Hand. Oder ist die KI so weit, dass wir keine Fehlgriffe mehr finden können? Die Antwort der Künstlerinnen und Künstler auf der "Paris Photo": Sie dokumentieren nicht mehr. Sie collagieren, übermalen, drucken auf Blattgold, Kupfer und gewebtes Material oder blasen bis zur Abstraktion auf.
Sie wollen zur nächsten Paris Photo? Die genauen Termine für die Ausgabe 2026 werden im Dezember bekanntgegeben. Mehr Infos finden Sie hier