"Mit Ihrer Tochter stimmt was nicht"Nicht riechen können - die unsichtbare Behinderung
Ein Interview von Sabine Oelmann
Nichts riechen zu können, noch nie etwas gerochen zu haben, das können sich viele nicht vorstellen. Aber es ist oftmals belastend und traurig. Man kann dennoch gut damit leben. Wie Lauren Ramoser. Mit ihr und Thomas Hummel, einem der weltweit führenden Experten für Geruchs- und Geschmackssinn, spricht ntv.de über Gerüche, Düfte und Dinge, die nicht zu ändern sind.
ntv.de: Lauren, bei dir ist das Nichtriechen-Können angeboren, also organisch bedingt.
Lauren Ramoser: Richtig, mir fehlt der Riechkolben. Das ist erst so richtig aufgefallen, da war ich bereits 14 Jahre alt. Ich dachte bis dahin, ich rieche einfach sehr schlecht. Im Chemie-Unterricht, als wir an einer Säure riechen sollte, fiel das einer Lehrerin auf, denn ich habe überhaupt nicht reagiert, während alle anderen schon angeekelt das Gesicht verzogen (lacht). Meine Lehrerin rief dann meine Mutter an und sagte: "Mit Ihrer Tochter stimmt was nicht".
Daraufhin seid ihr sicherlich zum Arzt gegangen.
Ramoser: Genau. Dort hielt man das erstmal für eine pubertäre Laune von mir. Das geht übrigens vielen so, weil es extrem schlecht zu überprüfen ist. Es gibt "Sniffin"-Sticks, die werden einem dann unter die Nase gehalten, sehen aus wie Text-Marker, und während meine Mutter sich im Hintergrund schon die Nase zugehalten hat meinte die Arzt-Helferin, etwas ungehalten, ich müsse aber auch wirklich mal einatmen. Ich habe aber tatsächlich nichts gerochen.
Beim Einschulungstest wird getestet, ob man gut sieht, hört und auf einem Bein steht – aber nicht, ob man riechen kann.
Ramoser: Das ist meines Wissens nach heute noch so. Ich bin ja selbst Mutter geworden vor einem Jahr, und ich habe bei den typischen Untersuchungen nachgefragt, ob man das bei meinem Kind - aus Gründen - überprüfen kann, aber der Kinderarzt sagte, dass man das nicht könne. Man macht keine MRT bei so kleinen Kindern, man sollte nur auf ihre Reaktionen im Zusammenhang mit Düften achten. Man soll Babys auch keine stark riechenden Sachen unter die Nase halten. Wir müssen wohl warten, bis sie sprechen kann.
Wie haben deine Eltern damals reagiert?
Ramoser: Mein Vater hat immer gesagt, dass er auch schlecht riecht. Meine Mutter dagegen hat einen ausgesprochen exzellenten Riechsinn. Wir scherzen immer, dass sie quasi alles aufgebraucht hat in unserer Familie und für mich nichts mehr übrig war. Und ja, ich weiß, wenn es brennt, kitzelt es in der Nase, und wenn es sehr kalt ist, dann spüre ich das auch beim Atmen. Ich hielt das übrigens lange für Riechen.
Wenn man keinen Riechkolben hat, dann kann man nichts machen, es wird aber daran geforscht, wie Menschen, die zum Beispiel durch eine Covid-Erkrankung oder einen Unfall ihren Riechsinn verloren haben, ihn sich dann wieder antrainieren.
Professor Hummel: Bei uns in der Spezialambulanz an der HNO-Klinik in Dresden geht es um den Riechverlust, um die chemischen Sinne, also um Riechen und Schmecken. Zu uns kommen Leute mit Störungen in diesen Bereichen, und wir versuchen, diese zuerst einmal ordentlich zu diagnostizieren und zu beraten. Um das besser zu verstehen, führen wir viele Forschungen durch, um den Patienten bessere Angebote machen zu können.
Ist das ein Thema, das seit Corona erst so richtig aufgekommen ist oder gab es früher auch schon viele Menschen mit Riechstörungen?
Hummel: Den Riechverlust durch Viren beispielsweise gab es auch schon vor Corona, unsere Ambulanz gibt es seit über dreißig Jahren. Aber auch das Älterwerden und chronische Nebenhöhlenentzündungen führen zu Riechstörungen. Oder auch plötzliche Riechverluste durch einen Unfall.
Wo spielt sich der Geruchssinn ab?
Hummel: Im Gehirn über der Nase, zwischen den Augen. Das ist eine Stelle, die schnell beeinträchtig werden kann. Riechzellen können sich wieder neu bilden, man kann das stimulieren, trainieren, auch von selbst kann sich der Riechsinn wieder regenerieren, das dauert in der Regel dann aber länger. Bei Riechzellen handelt es sich allerdings um Nervenzellen, die nachgebaut werden - das geht nicht überall, aber im Riechsystem ist das möglich. Und das ist die Basis dafür, dass man die Besserung des Riechvermögens anregen kann. Eine Möglichkeit, dies zu tun, ist das Riechtraining. Bei postviralen Riechstörungen ist Riechtraining zurzeit die am besten etablierte und die aussichtsreichste Therapieform. Sie ist langwierig und mühsam, man braucht viel Ausdauer, aber es wachsen nachweisbar Riechzellen nach, das Gehirn wird besser vernetzt, der Riechkolben wird größer und die Menschen riechen am Ende sogar besser als vorher.
Ramoser: Wenn man keinen Riechkolben hat, wie ich, kann man aber nichts machen. Man kann das nicht rekonstruieren, man wird keinen Chirurgen finden, der das macht. Und selbst, wenn es die Möglichkeit gäbe, würde das wahrscheinlich niemand machen für einen Sinn, den man nicht zum Überleben braucht. Man forscht natürlich und entwickelt, und ich könnte mir vorstellen, dass es eines Tages eine Art Gadget geben wird, das man mit sich trägt und in die Nase steckt, um partiell etwas riechen zu können.
Was sind denn die Hauptfunktionen des Riechens?
Hummel: Die Hauptfunktionen des Riechens sind dreierlei: Warnfunktion, zum Beispiel vor einem Brand oder vor Verdorbenem. Die Nase warnt uns auch vor Menschen, die nicht gut für uns sind., wenn sie beispielsweise nach Alkohol riechen oder nach Rauch oder Schweiß - da kann man sich dann fernhalten. Es sei denn, man mag das (lacht). Außerdem gehört es zu den sozialen Kontakten, zwischen Eltern, Kindern und in der Partnerschaft - wenn man seinen Partner nicht riechen kann, dann ist das nicht förderlich für die Beziehung. Auch das Thema Sexualität ist ein schönes Beispiel für die duftbezogene Kommunikation. Und drittens ist der Riechsinn natürlich wichtig für die Nahrungsaufnahme. Wenn der Feingeschmack nicht funktioniert, dann hat man keinen Appetit mehr, das geht alten Leuten oft so.
Ramoser: Ich habe den Eindruck, der Geruchssinn ist zu einem, wenn man das so sagen kann, "Lifestyle-Sinn" degradiert worden, weil man ihn braucht, um leckeres Essen zu riechen, oder Parfum, oder Duftkerzen. Aber er ist ja nunmal unser ältester Sinn für Warnungen. Außerdem sagt man ja nicht umsonst, dass man "jemanden gut riechen" kann. Beim Thema Partnerwahl habe ich da nur auf meine anderen Sinne setzen können. Hat aber funktioniert (lacht).
Wie sieht der Alltag ohne Geruch aus?
Ramoser: Bei uns macht mein Mann zum Beispiel die Wäsche, weil ich nicht weiß, ob sie gut riecht. Ich ziehe auf jeden Fall alles nur einmal an. Essen ist ein Problem – als ich noch Fleisch gegessen habe, habe ich mir häufiger mal den Magen verdorben. Gemüse sieht man schneller an, wenn es nicht mehr gut ist. Und ich sortiere den Kühlschrank, weil ich da mein System entwickelt habe und weiß, was wie alt ist oder wann es geöffnet wurde.
Der Duft eines Babys ist auf jeden Fall etwas, was Menschen unvergleichlich finden. Wie lebst du damit, dein Baby nicht riechen zu können?
Ramoser: Das ist natürlich schwierig für mich, weil alle ja vom Babyduft schwärmen. Das ist etwas, worüber ich mir schon immer Gedanken gemacht habe, auch früher schon, als ich noch nicht Mutter war.
Es ist aber auch gar nicht immer schön, gut riechen zu können …
Ramoser: (lacht) Ja, das sagt meine Mutter auch, sie kann alte Socken hinter dem Sofa "erschnüffeln". Aber sie sagt eben auch, dass sie mich aus 1000 Kindern am Geruch erkannt hätte. Und das ist etwas, was ich nie erleben werde.
Den Partner nicht zu riechen ist sicher etwas, das fehlt …
Ramoser: Ja, man sagt ja, dass die Partnerwahl auch über die Nase geht. Da habe ich, wie gesagt, nur meine anderen Sinne gehabt und denke, das passt aber trotzdem (lacht). Es macht mich manchmal schon traurig, dass ich niemals erfahren werde, wie meine Liebsten duften. Auf der anderen Seite ist es ein sehr unsicheres Gefühl, ich weiß ja gar nicht, worum es geht. Also kann ich auch nichts vermissen.
Du hast dich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt …
Ramoser: Ja, ich habe unter anderem eine Podcast-Reihe zu dem Thema gemacht, das hatte viel mit der Verarbeitung zu tun.
Ist der Geruchssinn der Verzichtbarste aller Sinne?
Ramoser: Ich glaube eher, der Geschmackssinn. Das hängt eng miteinander zusammen. Ich habe eine sehr eingeschränkte Geschmackswahrnehmung, ich esse fast nur nach Konsistenz. Es gibt außer stark versalzen oder zu scharf eigentlich nichts, was mir nicht schmeckt. Und ich könnte Lebensmittel rein anhand ihres Geschmacks überhaupt nicht identifizieren. Du kannst mir Kräuter hinhalten oder ein Blatt Papier, vom Geschmack her ist das dasselbe für mich.
Hummel: Der Feingeschmack ins ans Riechen gebunden. Es wird langweiliger. Man bekommt in vielen Fällen keine zufriedenstellende Sättigung mehr hin. Das geht aber überwiegend Menschen so, die normalerweise riechen konnten.
Professor Hummel, wer einmal die Erfahrung gemacht hat, wie es ist, nicht mehr riechen oder schmecken zu können, sei es durch das Alter, eine Erkrankung oder einen Unfall, der weiß, wie sehr man unter dem Verlust des Sinnesorgans leiden kann. Es gab dieses Jahr sogar eine multisensorische Ausstellung zu dem Thema, an der Sie teilhatten, eine eindrucksvolle Auseinandersetzung mit dem Verlust des Geruchssinns. Rückt das Thema nach den Spätfolgen der Pandemie nun mehr in den Fokus?
Hummel: Im Mittelpunkt stehen immer die persönliche Geschichten von Betroffenen, in dem Fall auch ihre emotionale Reise zurück zum Geruchssinn. Und damit zu mehr Lebensqualität. In meiner langjährigen Praxis sind mir viele Menschen begegnet, die vorübergehend nichts riechen konnten. Ich habe sogar ein Paar kennen gelernt, das sich im wahrsten Sinne des Wortes nicht mehr riechen konnte. Das kann bis zu einer Trennung führen.
Der Erfolg eines Riechtrainings ist von einer Vielzahl unterschiedlicher Faktoren abhängig, wie Alter, Geschlecht oder Dauer des Riechverlusts, daher gibt es unterschiedliche Besserungsraten. Im Schnitt aller Patienten liegen die Quoten derer, die durch Riechtraining eine Verbesserung erzielen, bei circa 40 Prozent, bei den jüngeren Patienten sogar bei bis zu 60 bis 70 Prozent, je nachdem, wie lange der Riechverlust schon andauert.
Du bist traurig, dass es ist, wie es ist, hast dich aber auch damit abgefunden. Bist du dennoch mit einer gewissen Hoffnung zu Professor Hummel in die Sprechstunde gegangen?
Ramoser: Ich bin tatsächlich ohne Hoffnung zu ihm gegangen. Ich hatte eine Presseanfrage, und als ich öfter mal in Dresden war, bin ich in Professor Hummels Ambulanz vorbeigegangen und habe auch an einer Studie teilgenommen, da ging es um Parkinson und Geruch. Da forscht man dran, wie es zusammenhängt, wenn der Geruchssinn bei älteren Leuten wegfällt. Denn das kann ein Anzeichen dafür sein, dass eine Demenz beginnt. Der Geruchssinn ist der direkteste Nerv, der mit unseren Erinnerungen verknüpft ist, deswegen vermutet man da Zusammenhänge.
Und wie kochst du, Lauren?
Ramoser: Sehr gut (lacht). Meine Mutter hat mir das beigebracht wie Vokabeln: Dieses Gewürz gehört dazu, in der Menge, und jenes hier geht gar nicht. Nichts zu riechen und nichts zu schmecken – so ist es für mich ja immer. Ich kenne es nicht anders, und es fehlt mir eigentlich nicht.
Erzählst du anderen, dass du nicht riechen kannst?
Ramoser: Manchmal, kommt drauf an, mit wem ich zusammen bin. Freunden und Kollegen erzähle ich das, weil die ein bisschen für mich mitriechen müssen – in Gefahrensituation oder auch, falls ich schlecht rieche (lacht). Denn ich weiß es ja nicht besser. Wenn ich es aber nicht erzähle, muss ich auch nicht behindert sein, wenn ich es nicht will.
Gehst du mit dem Wort "Behinderung" locker um?
Ramoser: Ja, ich denke schon. Niemand will ja behindert sein, aber faktisch bin ich es. Es ist eine Einschränkung, mit der man leben muss, und mit der man leben kann. Ich muss ein bisschen kompensieren, aber ich rede mir das schon lange nicht mehr schön.
In der Corona-Zeit hat das Thema Nicht-Riechen-Können mehr Aufmerksamkeit bekommen ...
Ramoser: Ja, es entstand eine richtige Lobby, ein Netzwerk, das aus Menschen besteht, die selbst betroffen sind oder Freunde und Verwandte haben, die nicht reichen können, aus welchen Gründen auch immer. Mein Podcast hat in der Zeit rasant an Fahrt aufgenommen, das Thema war in aller Munde, und es hat der Aufmerksamkeit auf jeden Fall richtig gutgetan. Ich wurde sogar nach Dänemark eingeladen, weil dort ein Kochbuch entstand für Menschen, die nicht riechen können.
Letzt Frage: Was passiert, wenn ein anderer Sinn auch nicht ideal funktioniert?
Hummel: Dann hat man tatsächlich ein höheres Risiko, an Demenz zu erkranken. Da ist die Forschung natürlich unglaublich hinterher, denn schlechter zu hören und schlechter riechen zu können, das passiert wirklich vielen Menschen im Alter.
Mit Lauren Ramoser und Prof. Hummel sprach Sabine Oelmann