Panorama

Gassen im Interview "Sinn der Maßnahmen erschließt sich vielfach nicht mehr"

"Es ist sicherlich der richtige Zeitpunkt, uns mal Gedanken zu machen, wie wir aus diesen ganzen Restriktionen wieder rauskommen."

"Es ist sicherlich der richtige Zeitpunkt, uns mal Gedanken zu machen, wie wir aus diesen ganzen Restriktionen wieder rauskommen."

(Foto: picture alliance/dpa)

Ist der befürchtete Kollaps der Infrastruktur ausgeblieben? Ja, sagt Kassenärzte-Chef Gassen. Nicht zum ersten Mal seien Szenarien sehr dramatisch gezeichnet worden. Und da sich in spätestens drei Wochen die Lage wieder entspanne, sei nun auch der richtige Zeitpunkt, in eine Lockerungsdebatte einzusteigen.

ntv: Die Impfquote stockt momentan. Wie groß ist das Potenzial, dass der neue Impfstoff von Novavax der Imfquote nochmal einen neuen Schub verpasst?

Andreas Gassen: Sie haben recht, wir haben momentan ein sehr langsames Anwachsen der Impfquote. Das würden wir uns natürlich besser wünschen und hoffen schon, dass durch Novavax noch die Menschen überzeugt werden können, die beispielsweise bisher Sorge hatten, dass die mRNA-Technologie nicht sicher ist. Wie viel das dann wirklich ausmacht, hängt natürlich auch ein bisschen von der Verfügbarkeit des Impfstoffes ab. Wir werden wahrscheinlich um die vier Millionen Dosen in den nächsten Wochen zur Verfügung haben und hoffen, die dann auch schnell zu verimpfen. Das würde dann auch einen Schub in die Impfkampagne bringen. Und dann glaube ich schon, dass wir eine Impfquote von der Größe Dänemarks erreichen können. Man muss immer bei uns sagen: Unsere Datenlage ist lange nicht so sicher wie die dänische. Von daher sagt das RKI ja selbst, die Quote könnte gut fünf Prozent höher liegen und dann sind wir ja quasi schon auf der dänischen Impfquote.

Könnte sich mit diesem Impfstoff auch die Debatte um die Impfpflicht von selbst auflösen?

Das ist schwierig. Man hat ja im Moment etwas den Eindruck, dass alleine schon aufgrund der Probleme, die bei der einrichtungsbezogenen Impfpflicht drohen, viele doch etwas zurückhaltender werden, was die Impfpflicht angeht. Und ich höre zunehmend aus dem politischen Raum: Wenn wir eine Impfquote haben, die hoch genug ist, dann wird die Impfpflicht vielleicht überflüssig. Es wird überlegt - das ist eine Vorratsgesetzgebung - wenn wir wieder massive Wellen erleiden und Impfquoten nicht passen, dass wir dann nachlegen. Ich glaube, die Diskussion ist im vollen Schwange im politischen Raum, das ist auch gut so.

Sie haben vor wenigen Wochen gesagt, dass das Personal in den Arztpraxen knapp wird. Wie ist die Situation heute?

Wir hören natürlich, dass durchaus Personal in Arztpraxen, wie auch in anderen Bereichen - das erlebt ja jeder im Moment, dass sich doch relativ viele Menschen mit Omikron infizieren - in der Regel nicht erkrankt, wenn es geimpft ist, aber trotzdem einige Tage am Arbeitsplatz fehlt. Aber natürlich ist das auch für die Arztpraxen eine Belastung, die sich hoffentlich, auch nach dem Abdämmen der Welle, die ja in den nächsten zwei bis drei Wochen nicht mehr so deutlich ist, wieder relativiert.

In die Praxen kämen derzeit viele Verunsicherte und Menschen, die sich freitesten wollen, sagt Kassenärzte-Chef Gassen.

In die Praxen kämen derzeit viele Verunsicherte und Menschen, die sich freitesten wollen, sagt Kassenärzte-Chef Gassen.

(Foto: imago images/Chris Emil Janßen)

Ist denn dieser Kollaps der kritischen Infrastruktur, wie man ihn befürchtet hatte, ausgeblieben?

Ja, das ist bisher ausgeblieben. Wir haben häufig das Problem, dass die Szenarien sehr dramatisch gezeichnet werden und dann wundert man sich hinterher, dass das so nicht passiert. Also, wir haben keine echten Probleme. Regional und lokal mag es irgendwo klemmen. Aber dass wir auf breiter Fläche Infrastrukturen nicht fahren können, weil so viele Menschen krank oder in Quarantäne sind, das ist noch nicht der Fall.

Das RKI meldet 120.000 Arztbesuche wegen einer Corona-Infektion für die vergangene Woche. Welche Patienten kommen denn da momentan vor allem in die Praxen?

Ein paar haben natürlich Symptome, die sind bei Omikron nicht so schwer. Was wir aber zunehmend erleben, und das belastet die Praxen schon, sind Unklarheiten bei den Testungen. Symptomatische Patienten werden nicht mehr abgestrichen, die kommen dann in die Praxen. Wir haben auch viele, die sich freitesten wollen, und dann gibt es Nachfragen. Die, die wirklich symptomatisch erkrankt sind, sitzen zu Hause und sind in Quarantäne. Insofern sind es sehr viele Menschen, die verunsichert sind oder die Testungen brauchen.

Mehr zum Thema

Einige Bundesländer lockern die Maßnahmen schon, vor allem die 2G-Regel im Einzelhandel kippt. Ist das der richtige Zeitpunkt?

Es ist sicherlich der richtige Zeitpunkt, uns mal Gedanken zu machen, wie wir aus diesen ganzen Restriktionen wieder rauskommen, deren Sinnhaftigkeit sich bei vielen Dingen nicht mehr erschließt. Ich habe letztens gehört, dass in Hamburg 2000 Menschen in der Philharmonie sitzen durften und 2000 im Fußballstadion. Das versteht nun wirklich kein Mensch mehr. Insofern muss man wirklich klären: Wo macht es Sinn und wo keinen? Was draußen geschieht, ist relativ risikolos. Und die 2G-Regelung ist in weiten Teilen schon von Gerichten kassiert worden. Wir müssen so langsam umdenken, denn Corona wird nicht verschwinden. Wir werden noch eine Weile diese sehr hohen Zahlen sehen, die bei uns ja auch nicht viel niedriger sind als in anderen Ländern. Und wir sehen eine komplette Entkopplung zum Krankheitsgeschehen. Das lässt einen zumindest Mut schöpfen.

Wozu führt das, wenn einige Bundesländer wieder ihren eigenen Weg gehen?

Es ist das altbekannte Bild. Das erleben wir ja seit zwei Jahren. Erst werden Beschränkungen gefordert, zum Teil sehr lautstark, die dann sehr unterschiedlich umgesetzt werden. Beim Lockern ist es nun genauso. Interessanterweise sind es zum Teil die gleichen Länder, die noch vor einiger Zeit starke Beschränkungen gefordert haben, die jetzt nicht schnell genug lockern können. Aber es gibt ja auch Lernkurven da. Insofern ist das auch in Ordnung.

Mit Andreas Gassen sprach Nele Balgo

Quelle: ntv.de

Newsletter
Ich möchte gerne Nachrichten und redaktionelle Artikel von der n-tv Nachrichtenfernsehen GmbH per E-Mail erhalten.
Nicht mehr anzeigen