Bevor sie verschleppt wurde Video einer Sanitäterin zeigt Horror von Mariupol
23.05.2022, 11:06 Uhr (aktualisiert) Artikel anhören
Eine berühmte ukrainische Sanitäterin zeichnet zwei Wochen lang mit einer Helmkamera ihren Alltag im belagerten Mariupol auf. Reporter schmuggeln die Speicherkarte aus der Stadt, bevor die Medizinerin von russischen Soldaten verschleppt wird. Seit Anfang April gibt es kein Lebenszeichen von ihr.
Das Schicksal der Sanitäterin Julija Pajewska, die freiwillig in Mariupol Zivilisten und Soldaten beider Kriegsparteien behandelte, bewegt die Ukraine. Bevor sie am 16. März in Gefangenschaft geriet, zeichnete sie mit einer Helmkamera zwei Wochen lang ihre Arbeit in der belagerten Stadt auf. Die Bilder sind ebenso erschütternd wie das Schicksal der Medizinerin.
Pajewskas Rufzeichen war "Taira". Sie nannte sich so, weil dies der Name ihrer Heldenfigur im Computerspiel "World of Warcraft" ist. Bis 2013 arbeitete die 53-Jährige als Designerin und Aikido-Trainerin. In der Ukraine ist sie auch als Sportlerin bekannt, die bei den Invictus Games in diesem Jahr als Schwimmerin und beim Bogenschießen teilnehmen sollte. Dabei handelt es sich um eine seit 2014 alle vier Jahre stattfindende paramilitärische Sportveranstaltung für kriegsversehrte Soldatinnen und Soldaten, die von Prinz Harry in Großbritannien ins Leben gerufen wurde.
Tausende weitere Sanitäter ausgebildet
Die Tätigkeit als Sanitäterin begann Pajewska 2013 bei den Maidan-Protesten in Kiew und ging im folgenden Jahr an die Front, als der Krieg im Donbass begann. Insgesamt bildete sie ukrainischen Medien zufolge rund 8000 weitere Sanitäter aus. Ihre Freiwilligen-Truppe wurde als "Taira's Angels" ("Tairas Engel") berühmt. Mit Beginn der russischen Invasion kümmerte sich Pajewska bis zu ihrer Verschleppung um die Versorgung und Evakuierung von Verwundeten in Mariupol.
Die kleine microSD-Karte mit dem Video ihrer letzten zwei Wochen in Freiheit wurde von AP-Reportern in einem Tampon versteckt aus dem belagerten Mariupol geschmuggelt. Der Nachrichtenagentur zufolge passierten sie dabei 15 russische Checkpoints, bevor sie von ukrainischen Truppen gehaltenes Gebiet erreichten.
"Taira" behandelte Ukrainer und Russen
Bei ihrer Arbeit machte Pajewska, die mit zwei künstlichen Hüften unter chronischen Schmerzen leidet, offensichtlich keinen Unterschied zwischen Freund und Feind. Eine Aufnahme zeigt, wie sie sich um zwei russische Armeeangehörige kümmert. Sie beruhigt ukrainische Soldaten, die die Gefangenen grob behandeln. Auf die Frage einer Frau, ob sie die Russen versorgen wolle, antwortete sie: "Sie werden nicht so freundlich zu uns sein, aber ich könnte nicht anders handeln. Sie sind Kriegsgefangene."

Hier sieht man, wie sie sich um zwei gefangene russische Soldaten kümmert, die schlecht behandelt werden.
(Foto: AP)
In einem Video, das kurz nach Beginn der Invasion am 26. Februar aufgezeichnet wurde, befiehlt Pajewska Kollegen, einen russischen Soldaten zuzudecken, "weil er friert." Sie nennt ihn "Sonnenschein". Als er fast ungläubig fragt, "du kümmerst dich um mich?", erklärt sie ihm: "Wir behandeln alle gleich."
"Ich hasse das"
Erschütternd ist eine Aufnahme, die entstand, nachdem ein Junge und ein Mädchen schwer verletzt eingeliefert wurden. Die Eltern sind tot, sie wollten mit ihren Kindern aus der Stadt fliehen und wurden an einem Kontrollpunkt beschossen. Der Junge stirbt unter ihren Händen und Pajewska wendet sich weinend ab. "Ich hasse das", sagt sie. Ob die Schwester überlebt hat, ist nicht bekannt.
Am 16. März fiel "Taira" zusammen mit ihrem Fahrer, den man im Video ebenfalls sieht, in russische Hände. Was genau passiert ist, weiß man nicht, doch offensichtlich wird die bekannte Sanitäterin für Propaganda und als Druckmittel missbraucht. Unter anderem wurde sie kurz nach ihrer Gefangennahme in einem Facebook-Video als "Nazi-Taira" vorgeführt.
Russisches TV verdächtigt sie des Organhandels
Der russische TV-Sender NTV nennt sie in einem zuerst am 27. März gesendeten Beitrag Nationalistin mit Verbindungen zum Asow-Bataillon und behauptet, sie habe sich bei ihrer "Flucht" aus Mariupol verkleidet hinter Kindern versteckt, deren Eltern getötet worden seien. Außerdem wird sie der Spionage und sogar des Organhandels verdächtigt. Seitdem gab es kein Lebenszeichen mehr von "Taira".
Pajewskas Ehemann Wadim sagte Radio Free Europe, er habe seit ihrem Verschwinden kaum Neuigkeiten über seine Frau erhalten. Sie habe Kinder und Frauen von Mariupol nach Saporischschja gebracht, als sie gefangen wurde. Sie sei nicht verkleidet gewesen, sondern habe Zivilkleidung getragen, weil sie eben Zivilistin sei.

"Taira" und ihr Fahrer. In ihrer Brusttasche steckt ein Stofftier, dass sie für Kinder immer dabei hatte.
(Foto: AP)
Einem von Invictus Games veröffentlichten Hilfe-Aufruf nach diente Juljia Pajewska von 2018 bis 2020 in der ukrainischen Armee und leitete die Evakuierungsabteilung des 61. Mobilen Krankenhauses in Mariupol. Danach sei sie aus dem Dienst ausgeschieden und habe dort als Zivilistin ehrenamtlich weitergearbeitet. Dem Asow-Bataillon habe sie zu keinem Zeitpunkt angehört.
Nach Erpresser-Brief kein Lebenszeichen mehr
Trotzdem berichtete ihr Ehemann von einer Erpresser-Nachricht, die er und andere Personen erhalten hätten. Wenn er "Taira" zurückhaben wolle, solle er Fotos von Asow-Stellungen in Mariupol schicken. Nach einer Auswertung der Fotos werde man Verhandlungen aufnehmen.
Dazu ist es allerdings nie gekommen und nach dem Fall Mariupols gibt es keine Informationen mehr, die er oder Julija Pajewska den Russen liefern könnten. Offiziell heißt es von russischer Seite, es gäbe keine gefangene Sanitäterin dieses Namens. "Es gibt in keiner Datenbank Informationen über sie, auch auf behördliche Anfragen erhält niemand eine Antwort", sagte Wadim Radio Free Europe. "Es ist völlig unklar, in welchem Zustand sie ist, ob sie medizinisch versorgt wird und so weiter. Ich rufe die gesamte Weltgemeinschaft auf, sich für die Freilassung meiner Frau aus der Gefangenschaft einzusetzen."
(Dieser Artikel wurde am Freitag, 20. Mai 2022 erstmals veröffentlicht.)
Quelle: ntv.de