Panorama

Weinende Soldaten abgehört Nutzen russische Truppen einfache Walkie-Talkies?

Nur auf offiziellen Bildern der russischen Agentur Sputnik sehen die Soldaten der Invasionsarmee siegessicher und gut ausgerüstet aus.

Nur auf offiziellen Bildern der russischen Agentur Sputnik sehen die Soldaten der Invasionsarmee siegessicher und gut ausgerüstet aus.

(Foto: picture alliance/dpa/Sputnik)

Russische Truppen in der Ukraine nutzen angeblich einfache Funkgeräte, die praktisch jedermann abhören kann. Aufgezeichnete Gespräche von demoralisierten Soldaten und Feuerbefehle auf zivile Ziele belegen dies offenbar, aber es könnte sich auch um geschickte Propaganda handeln.

Hinweise darauf, dass die derzeit in der Ukraine eingesetzten russischen Truppen in vielen Fällen schlecht ausgerüstet sind und Nachschubprobleme haben, sind zahlreich. Auch das Pentagon beobachtet "Treibstoff- und Logistikengpässe". Jetzt mehren sich Berichte, wonach viele Soldaten über einfache Walkie-Talkies kommunizieren, statt digitale Militär-Funkgeräte zu nutzen. Das heißt, die Gespräche könnten praktisch von jedem abgehört werden, der ein Funkgerät oder Kurzwellenradio auf die von den russischen Truppen genutzten Frequenzen einstellt.

Mitgeschnittener Funkverkehr

Die Mehrzahl der Berichte basieren auf mitgeschnittenem Funkverkehr, den der britische Geo-Nachrichtendienst ShadowBreak International abgefangen hat. Auch Anonymous-Aktivisten veröffentlichen Frequenzen, die die russischen Truppen angeblich nutzen beziehungsweise genutzt haben. Dazu werden Links zu WebSDR-Servern geteilt, über die man im Browser mithören kann, unter anderem der Dienst der Universität Twente im niederländischen Enschede.

Als Beispiel für die behelfsmäßige Kommunikation verweist ShadowBreak International auf Fotos, die ukrainische Einheiten von der Ausrüstung gefangener oder gefallener russischer Soldaten gemacht haben. Auf einem davon ist ein analoges Walkie-Talkie des Herstellers Baofeng zu sehen. Ein Beweis, dass das Gerät aus russischen Beständen stammt oder bei den Invasionstruppen Standard ist, ist das Foto allerdings nicht.

Es könnten auch die Ukrainer sein

Relativ sicher ist, dass auf den veröffentlichten Frequenzen tatsächlich Funkverkehr auf Russisch stattgefunden hat oder immer noch gehört werden kann. Zahlreiche Mitschnitte von Funkamateuren oder WebSDR-Nutzern lassen kaum einen anderen Schluss zu. Es ist durchaus möglich, dass es sich dabei um Feld-Kommunikation der Invasoren handelt, die Gespräche und Kommandos klingen realistisch.

Allerdings herrscht Krieg und auch die ukrainische Seite versucht sich über gezielte Desinformation Vorteile zu verschaffen. Und geschickte Propaganda setzt genau da an, wo Lüge und Wahrheit kaum auseinandergehalten werden können. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass der angebliche russische Funkverkehr von Ukrainern inszeniert wurde oder wird.

Zivile Ziele, Verluste, weinende Soldaten

Das was ShadowBreak International laut eigenen Angaben in Kooperation mit Funkamateuren und Übersetzern aus der ganzen Welt dokumentiert hat, passt sehr gut in das Bild einer Armee in desaströsem Zustand, die auch vor Kriegsverbrechen nicht zurückschreckt.

In einem veröffentlichten Mitschnitt ist zu hören, wie die russische Einheit "Buran-30" einen Raketenangriff auf zivile Ziele plant. In einem anderen erfährt man Zahlen von Verlusten und Verletzten oder bekommt mit, wie ein Kommandeur seine Soldaten beschimpft. Ein Gespräch fand offenbar während Kämpfen westlich von Kiew statt und Yug95 wurde beauftragt, 200 Tote und 300 Verletzte zu einer vorgeschobenen Einsatzbasis in Nalivaykovka zu bringen.

Besonders berührend ist ein Mitschnitt, der während eines russischen Einsatzes nahe Charkiw aufgenommen worden sein soll. Man hört einen Soldaten weinen. Er klagt über Treibstoffmangel und Koordinationsprobleme wegen fehlender Karten. Außerdem fordert er Luftunterstützung an und spricht über den Einsatz von Iskander-Raketen.

Tausende zeichnen weiter auf

In zahlreichen Aufnahmen könne man hören, wie die ungesicherte russische Kommunikation immer wieder von Zivilisten blockiert wird, schreibt ShadowBreak International. Das habe sogar dazu geführt, dass Truppen nicht richtig operieren konnten und sich zurückziehen mussten.

Der britische Geo-Informationsdienstleiter berichtet, es gäbe inzwischen eine große Community, die kontinuierlich weiter russischen Funkverkehr scanne und aufzeichne. In Kürze wolle man Journalisten und allen anderen Interessierten so viel unbearbeitetes Material wie möglich zur Verfügung stellen.

ShadowBreak International geht davon aus, dass der Einsatz einfacher Walkie-Talkies und die abgehörten Funksprüche Belege für den Zustand einer unvorbereiteten Armee mit großen Logistikproblemen sind, wie sie der Militärexperte Nicholas Laidlaw auf Instagram für "Battles and Beer" beschreibt. Die Informationen hat er von einem in die USA ausgewanderten russischen Ex-Soldaten, der jetzt für das US-Militär arbeitet, aber noch Kontakte zu alten Kameraden hat.

Soldaten glaubten an eine Übung

Kein russischer Soldat wolle kämpfen, schreibt Laidlaw. Ungefähr die Hälfte der Armee habe geglaubt, sie fahre zu einer Übung. Auf dem Weg habe man ihnen die Smartphones abgenommen und scharfe Munition verteilt. Wenige Stunden später habe man auf sie geschossen.

Die Offiziere, die gewöhnlich als einzige Bescheid wüssten, hätten sich von Tag zu Tag immer weiter von der kämpfenden Truppe entfernt, bis der Funkkontakt abgebrochen sei. Einige Spezialeinheiten und Fallschirmjäger seien über ihre Ziele informiert worden, aber sogar der Spetsnaz des russischen militärischen Nachrichtendienstes sei im Dunkeln gelassen worden. Man habe ihnen gesagt, es handle sich um eine dreitägige Exkursion, so Laidlaw.

Plündern, um zu überleben

Mögliche Gründe dafür sind für ihn Kommunikationsprobleme zwischen Putin und seinen Generälen oder eine Lüge. Am Sonntag jedenfalls hätten sich noch alle Versorgungsfahrzeuge außerhalb der Ukraine befunden, und die Fahrzeuge, die mit den Truppen in die Ukraine gebracht wurden, seien bereits zerstört oder ohne Treibstoff gewesen.

Jeder, der überleben wolle, müsse Kriegsverbrechen begehen, indem er Tankstellen und Lebensmittelvorräte von Zivilisten plündert, schreibt Laidlaw. Viele reguläre Soldaten weigerten sich, zu kämpfen und ließen ihre Ausrüstung und Fahrzeuge zurück. Die, die kämpften, hätten harte, linientreue Offiziere.

Keine Langstrecken-Kommunikation

Niemand könne die Kommandozentrale erreichen, berichtete der ehemalige russische Soldat Laidlaw. Das Problem seien keine Störungen, die Truppen hätten schlichtweg keine Langstrecken-Kommunikation. Insofern ist also der Einsatz von analogen Walkie-Talkies nicht zu weit hergeholt.

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In diesen Zusammenhang passt auch ein Artikel von "Defense One" über mögliche Gründe des russischen Strauchelns in der Ukraine. Dmitri Alperovitch vom Cyber-Sicherheitsunternehmen Crowdstrike sagte der Militär-Plattform, er glaube, Russland habe gezögert, das ukrainische Internet lahmzulegen, weil die russischen Streitkräfte sich für ihre eigene Kommunikation möglicherweise auf lokale Netzwerke verlassen.

Putin hat noch nicht ausgespielt

Der desaströse Zustand der Invasionsarmee muss aber nicht so bleiben, etliche Militärexperten rechnen damit, dass Putin noch lange nicht alle Karten auf den Tisch gelegt hat. Marion Messmer, Co-Direktorin des British American Security Information Council (BASIC) in London, sagte "Fortune", Putin habe möglicherweise ein "B-Team" in die Ukraine geschickt, weil er mit weniger Widerstand gerechnet habe. "Das A-Team ist entweder in Bereitschaft oder Putin hält es zurück, falls es zu einem späteren Zeitpunkt zum Krieg mit der NATO kommt."

(Dieser Artikel wurde am Mittwoch, 02. März 2022 erstmals veröffentlicht.)

Quelle: ntv.de

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