Panorama

Prozessauftakt gegen Flüchtlinge Warum zündeten sie einen Obdachlosen an?

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Arglos schläft Maciej B. Heiligabend vergangenes Jahr im Berliner U-Bahnhof Schönleinstraße auf einer Bank, als Jugendliche versuchen, ihn anzuzünden. Nur knapp entkommt er den Flammen. Sieben Flüchtlinge müssen sich jetzt für ihre Tat verantworten.

Heiligabend, 24. Dezember 2016. Während im Rest der Stadt besinnliche Weihnachtsstimmung herrscht, schlägt Maciej B. im Berliner U-Bahnhof Schönleinstraße sein Nachtlager auf. Der 37-jährige Pole sucht wie viele andere Obdachlose aus Osteuropa Schutz in Berlin. Er weiß, dass die Berliner Verkehrsbetriebe im Winter nachts traditionell einige U-Bahnhöfe öffnen, legt sich auf die grüne Bank zwischen zwei geflieste Säulen und deckt sich mit etwas Zeitung zu. Draußen nähern sich die Temperaturen dem Gefrierpunkt.

Während B. schläft, attackieren ihn gegen 2 Uhr nachts sieben Jugendliche. Nach bisherigem Kenntnisstand zünden sie in den frühen Morgenstunden des ersten Weihnachtsfeiertages das Papier an, mit dem sich der Obdachlose zugedeckt hatte. Seine Kleidungsstücke fangen Feuer. Nur weil aufmerksame Passanten sofort beherzt eingreifen und die Flammen löschen, bleibt der offenbar alkoholisierte Pole unverletzt. Auch ein U-Bahnfahrer sieht den Brand und kommt mit einem Feuerlöscher zu Hilfe. Die Täter können zunächst flüchten.

Doch der U-Bahnhof Schönleinstraße an der Grenze zwischen den Berliner Stadtteilen Kreuzberg und Neukölln wird mit Videokameras überwacht. Aufgrund der Schwere der Tat veröffentlicht die Polizei nur Stunden nach dem Übergriff Bilder von den tatverdächtigen Jugendlichen und bittet die Öffentlichkeit um Hilfe bei der Identifizierung. Die Gesuchten sind auf Fotos und einem Video in einer U-Bahn gut zu sehen. Sechs der Verdächtigen stellen sich schließlich der Polizei, den siebten nehmen Zivilfahnder fest. Sie sitzen seit dem 27. Dezember in Untersuchungshaft.

Nour N. soll betrunken gewesen sein

Die Staatsanwaltschaft erhebt gegen Nour N. (21), Mohammad M. (17), Ayman S. (17), Khaled A. (18), Mohamad Al-J. (19) und Bashar K. (16) Anklage wegen gemeinschaftlichen versuchten Mordes. Sie wirft den jungen Männern vor, mehrere brennbare Gegenstände "in unmittelbarer Nähe des Kopfes" des Obdachlosen angezündet zu haben. Den Angeklagten droht eine Freiheitsstrafe. Versuchter Mord wird mit mindestens drei Jahren geahndet. Sogar eine lebenslange Freiheitsstrafe kann unter Umständen verhängt werden. "Die Angeschuldigten sollen erkannt und billigend in Kauf genommen haben, dass der schlafende Geschädigte durch ungehindertes Ausbreiten des Feuers qualvoll hätte verbrennen können", so die Staatsanwaltschaft. Dem 17-jährigen Eyad A. wird unterlassene Hilfeleistung vorgeworfen. Warum die Männer den Obdachlosen anzünden wollten, muss der Prozess vor einer Jugendkammer des Landgerichts Berlin klären.

Aus Ermittlerkreisen ist bekannt, dass sechs der Verdächtigen aus Syrien und einer aus Libyen stammen. Sie sind zur Tatzeit zwischen 15 und 21 Jahren alt. Sie sollen zwischen 2014 und 2016 als Flüchtlinge nach Deutschland gekommen und in unterschiedlichen Flüchtlingseinrichtungen untergebracht gewesen sein. Sechs von ihnen sind polizeibekannt – unter anderem wegen Körperverletzung. Hauptverdächtiger ist der 21-jährige Syrer Nour N. Er soll staatenloser Palästinenser mit libyschen Papieren sein und vor eineinhalb Jahren aus dem Flüchtlingscamp Yarmouk in der Nähe von Damaskus seinen Weg nach Deutschland gefunden haben. Der genaue Aufenthaltsstatus der jungen Flüchtlinge ist noch ungeklärt. Einige sollen über Aufenthaltsgenehmigungen verfügen, andere befinden sich in laufenden Asylverfahren, teilt die Polizei mit. Ob den mutmaßlichen Tätern im Falle einer Verurteilung die Abschiebung droht, ist jetzt noch nicht absehbar.

Jugendlichen Straftätern droht die Ausweisung

Die Angeklagten haben sich inzwischen zu der Tat geäußert. Der Hauptverdächtige Nour N. hat ausgesagt, an dem Abend stark alkoholisiert gewesen zu sein, sagt die Staatsanwaltschaft auf Anfrage von n-tv.de. Er könne sich demnach an nichts erinnern. Ein anderer Angeklagter behauptet, sich nicht darüber im Klaren gewesen zu sein, dass Maciej B. durch die Feuer-Attacke hätte sterben können. Gegenüber "Spiegel Online" äußert sich der ältere Bruder eines Verdächtigen. Er habe Bashar auf den Fahndungsfotos erkannt, so Emad K. "Die Mütze, die Nase, mir war klar, das ist Bashar." Daraufhin habe er seinen Bruder angerufen und überzeugt, sich zu stellen.

Der 15-Jährige habe ihm versichert, dass er unschuldig sei. Er und seine Freunde hätten den Obdachlosen nicht absichtlich angezündet. Der 21-jährige Libyer habe ein Taschentuch entflammt und auf eine Tüte oder Tasche neben den Obdachlosen geworfen. Nach Angaben von Bashar K. habe der Pole auch nicht geschlafen, sondern sei auf dem Bahnsteig herumgelaufen und habe sich dann zu den Flüchtlingen gesetzt. Im Prozess wird das Überwachungsvideo aus dem U-Bahnhof zeigen, welche Version stimmt. Ob das Opfer vor Gericht als Zeuge aussagen wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht klar.

Minderjährige Flüchtlinge brauchen Vorbilder

Obdachlose werden immer wieder Opfer von Gewalt. Im vergangenen Jahr kam es zu 52 Übergriffen, acht Obdachlose starben. Für manchen sind sie Freiwild und mit vielen Vorurteilen behaftet. Ein eindeutiges Täterprofil ist schwer auszumachen. Meistens seien Gewalttäter männlich, unter 30 Jahren alt und Einzeltäter, heißt es bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W). Der Ansicht, dass Gewalt gegen Obdachlose ein durch Flüchtlinge verursachtes Problem geworden ist, widerspricht die BAG W. Mit Zahlen lasse sich jedoch belegen: Von 179 Menschen, die von Neonazis umgebracht worden sind, waren 25 obdachlos.

Der Brandanschlag hat erneut eine Debatte über die Betreuung von unbegleiteten Flüchtlingen ausgelöst. Derzeit würden etwa 2700 junge Leute, die ohne Eltern nach Deutschland gekommen seien, vom Land, den Jugendämtern der Bezirke sowie von sozialen Trägern versorgt, sagte Jugendsenatorin Sandra Scheeres dem rbb. Im Vergleich zu anderen Ländern stehe Berlin gut da. Gleichzeitig warnt die Berliner Caritasdirektorin Ulrike Kostka davor, dass jugendliche Flüchtlinge keine "verlorene Generation zwischen Kriminalität und Depression" werden.

Quelle: ntv.de

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