Ohne Bindung keine Bildung Was Lehrer und Schüler retten könnte
31.03.2014, 11:13 Uhr
Eine gute Beziehung zwischen Schüler und Lehrer ist nicht nur in der Grundschule wichtig.
(Foto: picture alliance / dpa)
Lehrer sind faule Säcke, Schüler träge und desinteressiert. Und ohne mehr Geld für Sozialarbeiter, kleinere Klassen und bessere Unterrichtsstruktur wird es nie bessere Schulen in Deutschland geben. Das ist die öffentliche Meinung. Dabei gibt es einen großen Spielraum.
"Ich hab keine Wahl, die Schule ist 'ne Qual!", stöhnt das Sams. Und jeder, der mit Schule zu tun hat, ob Schüler, Eltern oder Lehrer, könnte sofort mit einstimmen. Höchstens im Nahost-Konflikt sind die Fronten so rettungslos festgefahren wie in der Debatte darum, wie man Schule wieder zu einem verlockenden und spannenden Ort machen könnte. Wie man Kindern die Lernfreude erhalten könnte und wie Schüler endlich das lernen können, was sie im Leben wirklich brauchen.
Doch nach endlos langen Bildungsdiskussionen um Schulformen, Unterrichtsmodelle, Klassenstärken und Bildungsstandards bricht sich derzeit ein Gedanke Bahn, der ob seiner Schlichtheit verblüfft. Er lautet: Zentral für den Lernerfolg des Schülers ist die Person des Lehrers. Seit der neuseeländische Bildungsforscher John Hattie zahlreiche Studien zur weltweit größten Datenbasis zur Unterrichtsforschung zusammenführte, erscheint Lernerfolg messbar. Die alles entscheidende Größe dabei ist offenbar die Person, die das Wissen vermittelt - die Lehrerin oder der Lehrer.
Diese These steht im krassen Missverhältnis zu dem, wie Lehrer in Deutschland bisher ihre Rolle wahrnehmen. Als das Allensbach-Institut im Jahr 2012 Pädagogen zu ihrer Bedeutung befragte, waren 48 Prozent der Lehrer der Meinung, sie hätten wenig oder gar keinen Einfluss auf ihre Schüler. Lediglich acht Prozent der Befragten meinten, sie hätten eine "sehr große Bedeutung". Es sind nicht zuletzt Zahlen wie diese, die Christine Eichel zu ihrem Buch "Deutschland, deine Lehrer" gedrängt haben. Wer jetzt vor allem Lehrerschelte erwartet, weil die so einfach wie bewährt ist, wird schnell merken, dass es um sehr viel mehr geht.
Schulsystem versagt
Eichels These ist, dass sich im Klassenzimmer die Zukunft der Kinder entscheidet. Derzeit sind die Resultate oft verheerend. "20 Prozent der deutschen Schulabgänger haben große Schwierigkeiten, Texte zu erfassen und kommen über die Grundrechenarten nicht hinaus. Das sind fehlende Kompetenzen, die nicht nur den weiteren Bildungsweg erschweren, sondern sich auch im Alltag katastrophal auswirken", sagt Eichel im Gespräch mit n-tv.de. "Wer nicht in der Lage ist, eine Verbraucherinformation richtig zu lesen oder einen Ratenvertrag bei der Bank zu durchschauen, der hat es richtig schwer. Und da hat eigentlich unser Schulsystem versagt."
Für dieses Versagen macht Eichel weniger Bildungskonzepte als vielmehr Personen verantwortlich. Viele Lehrer sehen sich demnach eher als Bildungsbeamte, die vor allem ihrem Schulleiter und der zuständigen Behörde verpflichtet sind. Andere sind wegen der schlechten Stimmung an den Schulen, die sich nicht zuletzt in hohen Krankenständen bis hin zum Burn out, Mobbing und schließlich der Frühverrentung äußert, vor allem mit sich selbst beschäftigt.
35 Prozent der Pädagogen fühlen sich auf den Umgang mit den Schülern unzureichend vorbereitet, obwohl die Motivation, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten, bei Lehrern immer noch an erster Stelle steht. Doch wie viele gehen dann täglich ins Klassenzimmer und sehen kleine oder auch größere Menschen, die ihnen prinzipiell wissensdurstig und neugierig entgegenblicken?
Für Bindung nicht zuständig?
Dabei ist es längst eine Binsenweisheit, dass Kinder besonders gern von jemandem lernen, zu dem sie eine enge Bindung haben. Das heißt im Umkehrschluss: Auch in der Schule gehören Bindung und Bildung zusammen. "Lehrer sind immer potenzielle Bindungskandidaten, sie sehen das nur selbst meist nicht. Sie haben in ihrer Ausbildung gelernt, ihre Rolle stark zu versachlichen. Sie beschäftigen sich mit ihren fachlichen Inhalten und mit der Didaktik. Deshalb verstehen sie ihren Beruf als angewandte Methodik, nicht etwa als den Aufbau einer Beziehungskultur." Dabei verlieren sie leicht die Kinder aus dem Blick.
Eichel nennt es verrückt, dass viele Lehrer das Bindungsbedürfnis von Kindern so konsequent ignorieren können. Dabei sind die Folgen deutlich sichtbar, nicht nur in den unzähligen Autoritätskonflikten, in denen Schüler darum kämpfen, wahrgenommen zu werden. Auch mentale Abwesenheit, Langeweile bei gleichzeitig fehlender Teilnahme am Unterricht oder die Neigung zur Konfliktvermeidung ohne Lösungsabsicht sind Anzeichen für eine nicht gelingende Lehrer-Schüler-Beziehung, an deren Ende eine völlig versiegende Lernmotivation stehen kann. Lehrer könnten also durchaus sehen, ob ihr Unterricht ankommt oder nicht.
Doch "viele Lehrer sagen, ich mache ein Angebot und wer nicht mitkommt oder das Angebot nicht annimmt, hat gewissermaßen selbst schuld. Die Verantwortung für gelingenden Unterricht wird an die Schüler und an die Eltern delegiert." Nur wenige Lehrer fragen sich, was habe ich falsch gemacht, dass Hänschen oder Gretchen die schriftliche Multiplikation nicht raffen oder das mit dem Dehnungs-H immer noch nicht geschnallt haben? Die Antwort könnte lauten, dass Hänschen und Gretchen fühlen, dass sie nicht gesehen werden und darum gar nicht auf die Idee kommen, von dieser missachtenden Person vorn an der Tafel irgendein Angebot anzunehmen. Das würde auch erklären, warum sie zu Hause Dinge mit links machen, die ihnen in der Schule scheinbar unmöglich sind.
Überzeugt von sich selbst
Schon länger suchen Experten nach stabilen Lernmotivatoren. Eine Erkenntnis ist: Wer an seine Kompetenz und seine Begabungen glaubt, ist eher bereit, sich anzustrengen – der Psychologe Albert Bandura nennt es Selbstwirksamkeit. Erfolgreiche Lehrkräfte schaffen es, genau diese Überzeugung zu vermitteln. "Wir alle kennen diese Lehrer, die eine unglaubliche Ausstrahlung hatten, von denen wir uns aber auch wahrgenommen und motiviert fühlten und die uns ein Fach erschlossen haben. Ich fürchte, dass vielen Lehrern diese einfache Erkenntnis nicht bewusst ist", meint Eichel. Es gebe zwar auch diejenigen, die sich im Klassenzimmer auf einfache menschliche Werte besinnen und gegen die eigene Versachlichung rebellieren – noch seien es aber zu wenige.
Eichel erzählt von verschiedenen Lehrern und ihrer besonderen Art, solidarische Lernpartner von Schülern und Eltern zu sein. "Es gibt gute Lehrer, das muss man sagen und die muss man auch feiern." Pädagogen wie Sabine Czerny oder Robert Rauh haben im Kopf und im Herzen die Entscheidung getroffen, Bindungsperson zu sein, "auch wenn sie das selbst vielleicht nicht so sagen würden". Sie besuchen Familien zu Hause, um den Kontext des Kindes besser verstehen zu können und nicht erst dann Kontakt zu den Eltern zu suchen, wenn es Probleme gibt. Sie sind offen für Gespräche im Unterricht, sie üben für Klausuren, mit dem Ziel, dass die Schüler leisten können, was sie leisten sollen. Sie stoßen Projekte an und sind dafür sogar nachts am Telefon erreichbar. Sie unterrichten im Team und begleiten Erfolge wie Misserfolge ihrer Schüler gleichermaßen solidarisch. Und wenn es drauf ankommt, sind sie einfach nur Mensch.
Das klingt nach einer heftigen Zumutung für die Lehrer. Und das ist es im "extrem defizitären" beruflichen Umfeld vieler Lehrkräfte wahrscheinlich auch. Denn Lehrer erfahren viel zu wenig Wertschätzung für ihre Arbeit. Viele Einsparmaßnahmen gingen auf ihre Kosten, Engagement wurde zur Freizeitaktivität. Eichel widmet den Belastungen vieler Lehrer, der Missachtung durch die Gesellschaft, dem Stress, dem Zeit- und Leistungsdruck, unter dem Pädagogen arbeiten, sowie dem fehlenden Rückhalt bei Kollegen und Vorgesetzten viele Seiten. Trotzdem bleibt sie dabei: Lehrer haben die "Wahl zwischen aggressivem Kampfmodus oder solidarischer Kooperation". Und gelingende Schüler-Lehrer-Beziehungen wirken auf die Pädagogen zurück. Eltern sind eher bereit, sie als Partner anzunehmen. Schüler erzielen nicht nur bessere Lernerfolge, sondern verhalten sich auch respektvoller dem Lehrer gegenüber.
Um diese Veränderungen zu bewirken, muss man nicht gleich die gesamte Struktur einer Schule ändern oder alle Wände einreißen. Vieles kann die Persönlichkeit eines Lehrers bewirken. Deshalb befürwortet Eichel Persönlichkeitstests für zukünftige Lehrer, aber auch Fortbildungen und Supervision. Durch die Art der Ausbildung könnte man aber auch Menschen darauf aufmerksam machen, dass sie "in ihren Kommunikationsfähigkeiten und ihren emotionalen Kompetenzen Defizite haben, die sie bewusst korrigieren können". Dann würden Lehramtsstudenten im ersten Semester lernen: Es ist egal, ob ihr Mathe oder Deutsch unterrichtet, das Wichtigste ist es, eine Beziehung zum Schüler aufzubauen. "Und dann kann man über Lerntheorie und Entwicklungspsychologie verstehen, was in den Köpfen und Herzen meiner Schüler vorgeht."
Quelle: ntv.de